Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Ergebnis der Rundreise. 293 
Siebzig, „mit gutem Gedächtnis“, wie der Minister versicherte; jeden Knopf 
und jeden Schnörkel von dem altfränkischen Hausrat verschollener Tage 
hatten sie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red— 
lichem Bemühen eine lange Reihe historischer Übersichten zustande. Da 
standen sorgsam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae 
annuge der kurtrierschen Stände, die schlesischen Fürstentage und die 
Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogtums 
Westfalen und die Bleicheroder Steuerstube der Grasschaft Hohenstein, 
„das Vest Recklingshausen“ und der Landtag des Fürstentums Corvey 
mit seinen fünf Köpfen und drei Ständen — und am Ende war aus 
dem ganzen Wust nur das eine zu lernen, daß sich nichts daraus lernen 
ließ für die lebendige Gegenwart. 
Die Bereisung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebnis: ein 
unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unsicheren Wünschen. 
Auch die wenigen Publizisten, welche sich mit der Verfassungsfrage be- 
schäftigten, wußten keinen Rat. Der liberale Gräbvell stellte in seiner 
Schrift: „Bedarf Preußen einer Konstitution?“ die unschuldige Forderung, 
daß die gesamte Gesetzgebung seit 1806 den Reichsständen zur Prüfung 
vorgelegt werden solle; er bedachte nicht, wie leicht dieser freisinnige Wunsch 
zur Zerstörung der Stein-Hardenbergischen Reformen führen konnte. 
Benzenbergs Buch „über Verfassung“, das König Friedrich Wilhelm freund- 
lich aufnahm, immerhin eine der reifsten politischen Schriften der Epoche, 
hebt also an: „In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine 
kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmesser 1718 Meilen ist" — und 
also vom Ei des Ei's beginnend wälzt die Darstellung sich weiter, bis der 
aufstöhnende Leser endlich auf Seite 504 bei Deutschland anlangt und 
über Preußen nahezu nichts erfährt! 
Die ernste Frage: ob diese stolze absolute Krone, die soeben wieder durch 
die Neugestaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge- 
brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer 
Ständeversammlung teilen dürfe — dies große Rätsel erschien nach 
Vernehmung der Stimmen aus dem Volke fast noch dunkler denn zuvor. 
Die scheltenden liberalen Schriftsteller draußen im Reiche, welche über dem 
einen, was Hardenberg nicht zu stande brachte, das größere vergaßen 
was er leistete, sie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be- 
stürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweise kindlicher poli- 
tischer Unreife, welche die Rundreise an den Tag brachte, war doch die 
Erfahrung, daß mindestens die Hälfte des preußischen Volks noch gar 
nicht über die Grenzen der heimischen Provinz hinausblickte. Durchaus 
richtig schilderte Graf Edmund Kesselstadt, einer der einsichtigsten Patrioten 
am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen also: „der Gedanke einem 
großen Staate anzugehören ist einem großen Teile der preußischen Unter- 
tanen fremd, da der Gedanke Deutsche zu sein ihnen gewissermaßen immer
	        
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