412 II. 7. Die Burschenschaft.
Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich
fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutschen ist auf den Burschenfahrten
zum Fuchsturm und zur Leuchtenburg die Poesie des deutschen Berg-
landes zum ersten Male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeistert
empfingen die Jenenser Studenten einst im Theater zu Weimar die
Dramen Schillers aus erster Hand. Unter der Fremdbherrschaft zeigte
die Universität ihre deutsche Gesinnung so unerschrocken, daß Napoleon
einmal nahe daran war, dies verhaßte Nest der Ideologen und Radoteurs
verbrennen zu lassen.
Es konnte nicht fehlen, daß diese vaterländische Begeisterung nur noch
heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörsäle zurückkehrten,
mancher mit dem eisernen Kreuze geschmückt, fast alle noch wie berauscht
von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Hasses gegen „die
äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes“ — weitaus die beste
Studenten-Generation seit langen Jahren, aber leider schon zu ernst für
die harmlose Träumerei und die überschwengliche Freundschaft, welche dem
Studentenleben seinen eigentümlichen Zauber geben. Die dringend nötige
Reform der verwilderten akademischen Sitten konnte nur von einem
Geschlechte ausgehen, das so viel reifer war als der Durchschnitt der Stu-
denten vordem; und doch hatte diese ritterliche Jugend in zwei schweren
Kriegen schon zu viel erlebt um sich wieder in die bescheidene Rolle des
Schülers finden zu können; die Gefahr hochmütiger Uberhebung, die
ohnehin in der Zeit lag, war für sie fast unentrinnbar. Ahnliche Re-
gungen christlich-germanischer Schwärmerei waren schon einmal auf den
Universitäten aufgetaucht, in den Tagen des literarischen Sturmes und
Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopstocks Messias
und die Helden des Teutoburger Waldes sich begeisterten und den Sänger
des Polsters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur
engere Kreise bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tausenden.
Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungswesen der Univer-
sitäten dem abgehärteten, sittenstrengen neuen Geschlechte erscheinen. Von
der Barbarei der alten Renommisten war nur zu vieles noch übrig,
obwohl die Humanität der neuen literarischen Bildung auch die akade-
mischen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht
zeigten sich oft mit einer Frechheit, die uns heute schon unmöglich scheint;
das Hazardspiel ward überall selbst auf offener Straße betrieben, und die
unausrottbare deutsche Rauflust ging soweit über alles erlaubte Maß
hinaus, daß die 350 Mann starke Jenenser Studentenschaft im Sommer
1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die frischen volks-
tümlichen Trink= und Wanderlieder der sangeslustigen alten Zeiten waren
fast verschollen; man sang zumeist schmutzige Zoten oder die weinerlichen
Ergüsse einer platten Sentimentalität, die einer längst überwundenen
literarischen Epoche angehörte. Mit den Rosenkreutzern und den anderen