Fries und die Jenenser. 415
Besonders zeitgemäß erschien den jungen Leuten seine Geschichtsphilosophie;
er verstand den Reichtum der historischen Welt in das Schema einer
dürftigen Doktrin einzupressen, welche seitdem von unzähligen gelehrten
Publizisten, bis auf Gervinus herab, in mannigfachen Formen nachge—
sprochen worden ist: darnach sollte im Orient die Religion das Leben der
Menschheit beherrscht haben, im klassischen Altertum die Schönheit, in
der christlichen Welt die Erkenntnis, neuerdings aber, seit der Revolution,
stand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkt der Ge—
schichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politisierenden Dilettanten
Tür und Tor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Absicht hegte
das junge Volk vor leidenschaftlichen Verirrungen zu bewahren, so ließ er
sich doch zu manchen unvorsichtigen Außerungen hinreißen, und schließ—
lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwischen Pro—
fessoren und Studenten fast unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung
mit seinen jungen Freunden, da sie dem Lehrer doch nicht alles anver—
trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den
Reihen der Jugend überhandnahm.
Ursprünglich war eine unbestimmte patriotische Sehnsucht der einzige
politische Gedanke der Jenenser Burschen. Sie schwärmten für ein ab—
straktes Deutschtum, so wie es einst in den Reden an die deutsche Nation
verherrlicht worden; von der lebendigen preußischen Staatsgesinnung,
welche sich Fichte am Abend seines Lebens gebildet hatte, ahnten sie
nichts. Jeder Unterschied von Preußen, Bayern und Sachsen sollte ver—
schwinden in dem einen Begriffe der Deutschheit; und da nun unter
allen deutschen Einzelstaaten keiner ein so handfestes Leben besaß wie der
preußische, so gerieten diese jungen Träumer, die doch beständig von der
Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denselben Ab—
weg wie die Nemesis und die Isis: sie begannen den Staat, der jenen
Krieg fast allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen.
Unter den Begründern der Burschenschaft befand sich ein einziger
Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, sehr mäßig begabter
junger Schwärmer, der unklarste Kopf von allen den Berserkern aus Jahns
engerem Kreise. Die anderen waren sämtlich Thüringer, Mecklenburger,
Kurländer, Hessen, bayerische Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht
schwer ihren heimatlichen Staat in einer allgemeinen Deutschheit einfach
untergehen zu lassen. Auf den preußischen Universitäten schlug die Bur-
schenschaft nur langsam Wurzeln, zunächst in Berlin. In Breslau wen-
deten sich ihr zuerst die neupreußischen Lausitzer zu; den Schlesiern wollte
es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem
gesinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten sollte als Bückeburg oder
Darmstadt. Die Jenenser dagegen und die radikalen Gießener, die sich
der burschenschaftlichen Bewegung am frühesten anschlossen, bekämpften
nicht nur jede berechtigte Regung preußischen Selbstgefühls als „undeut-