Dichtung und Wahrheit. 35
Das mächtige Selbstbewußtsein, das sich in diesen Blättern aussprach,
war die heitere Ruhe eines ganz mit sich einigen Geistes, die glückliche
Unbefangenheit eines Dichters, der sein Leben lang nur Bekenntnisse ge-
schrieben hatte und längst gewohnt war den Tadlern und den Neidern
gelassen zu antworten: ich habe mich nicht selbst gemacht.
Immer wenn er in das deutsche Leben hineingriff hatte er sein Höch-
stes geleistet;) so waren denn auch die Gestalten, die er jetzt aus der Er-
innerung heraufbeschwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur
die schönsten seiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhause von Sesen-
heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutschen
Herzens, und wenn ein Deutscher an die seligen Tage seiner eigenen
Kindheit zurückdachte, so stand mit einem Male das winklige alte Haus
am Hirschgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er
schaute der glücklichen Frau Rat in die tiefen lachenden Augen. Der
Dichter sagte mit seinen Alten: in der Gestalt wie der Mensch die Erde
verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm selber fiel ein anderes
Los; denn so mächtig war der Zauber dieses Buches, daß noch heute,
wenn Goethes Namen genannt wird, fast jedermann zuerst an den könig-
lichen Jüngling denkt; seine Mannesjahre, die er selbst nicht mehr ge-
schildert hat, scheinen neben dem sonnigen Glanze dieser Jugendgeschichte
wie im Schatten zu liegen.
Wie Rousseau die Zeitgeschichte mit der Erzählung seines Lebens
verwoben hatte, so gab auch Goethe, nur ungleich tiefsinniger und gründ-
licher, ein umfassendes Geschichtsbild von dem geistigen Leben der fride-
ricianischen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer schil-
derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutschen Kunst:
wie alles keimte und drängte, wie der frische Duft des Erdreichs aus
den neu umgebrochenen Ackern die Luft erfüllte, wie der eine Baum
noch kahl stand und andere schon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie-
buhr und andere Zeitgenossen dem Dichter den historischen Sinn abge-
sprochen, weil er sich so gern in die Natur versenkte. Er aber löste jetzt
die beiden höchsten Aufgaben des Geschichtschreibers, die künstlerische und
die wissenschaftliche, und zeigte durch die Tat, daß beide in Eines zu-
sammenfallen: indem er die Vergangenheit den Lesern so lebendig ver-
gegenwärtigte, daß sie alles mitzuerleben glaubten, ließ er sie zugleich
das Geschehene verstehen, die Notwendigkeit der Tatsachen erkennen.
Das Werk war entstanden in den Tagen der napoleonischen Weltherr=
schaft, da der Dichter selbst an der politischen Auferstehung seines Vater-
landes zu verzweifeln schien, und gleichwohl sprach aus jedem Satze die
zuversichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianischen Zeitalters.
Kein Wort ließ erraten, daß der Dichter nach den jüngsten Niederlagen
den Glauben an Deutschlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben
jetzt, da alle Welt den preußischen Staat verloren gab und selbst die
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