Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

438 II. 7. Die Burschenschaft. 
durch das unnatürliche Pathos seiner radikalen Kraftsprache selber ver— 
darb; ihm und seinem Freunde Sartorius verdankten die Turner ihre 
wildesten und frechsten Lieder. Bedeutender war sein Bruder Karl, ein 
Fanatiker des harten Verstandes, im Grunde ein unfruchtbarer Kopf, 
aber von seltenem dialektischem Scharfsinn, ein frühreifer, ganz mit 
sich einiger Charakter, der nach der Weise radikaler Propheten sich den 
Anschein dämonischer Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen 
seiner jungen Genossen wie der Alte vom Berge vorkam. Er war bereits 
Dozent der Rechte und bezauberte die Studenten durch jene bewußte 
Sicherheit, die von der unerfahrenen Jugend so gern als ein Zeichen 
genialer Begabung betrachtet wird; jedes seiner Worte war durchdacht, 
keines nahm er wieder zurück; mit unerbittlicher Logik zog er aus dem 
Satze der unbedingten Gleichheit aller, vor keiner Folgerung zurück— 
schreckend, seine Schlüsse. Die rätselhafte Mischung von Kälte und Fana— 
tismus in seinem Wesen, auch die peinliche Sauberkeit seiner Erscheinung 
und der drohende Zug über den Augen erinnerten an Robespierre; nur 
war er kein Heuchler, sondern übte wirklich die bedürfnislose Sittenstrenge, 
die er predigte. Für die unschuldigen Kaiserträume der Tübinger und 
Jenenser Burschen, die sich die Krone der Staufer gern auf dem Haupte 
ihres Wilhelm oder Karl August dachten, hatte Karl Follen nur ein 
Lächeln; auch ihr Franzosenhaß und ihre Deutschtümelei schienen ihm 
kindisch, obgleich er sich wohl hütete seine weltbürgerlichen Ansichten, die 
ihn um allen Einfluß gebracht hätten, offen einzugestehen. Er war Jako— 
biner schlechtweg und unterhielt wahrscheinlich schon im Jahre 1818, wie 
die Jenenser Burschen argwöhnten, unzweifelhaft aber seit 1820 einen 
vertraulichen Verkehr mit den radikalen Geheimbünden, welche, über ganz 
Frankreich verzweigt, von Lafayettes Comité directeur beherrscht wurden. 
Sein leitender Gedanke war, daß niemand einem Gesetze, dem er sich 
nicht freiwillig unterworfen habe, Gehorsam schulde und mithin — nach 
dem alten Rousseauschen Trugschlusse — nur die Mehrheitsherrschaft zu 
Recht bestehe: „jeder Bürger ist Haupt des Staates, denn der gerechte 
Staat ist eine vollkommene Kugel, wo es kein oben noch unten gibt, 
weil jeder Punkt Spitze sein kann und ist.“ 
So enthielt denn auch der Entwurf einer deutschen Reichsverfassung, 
der von Adolf Follen niedergeschrieben, von seinem Bruder Karl verbessert 
und im Herbst 1818 dem Jenenser Burschentage vorgelegt wurde, bis auf 
einige teutonische Redensarten nichts weiter als eine freie Nachbildung des 
Grundgesetzes der französischen Republik. Alle Deutschen an Rechten voll— 
kommen gleich; Gesetzgebung durch gleiche Abstimmung aller nach Mehrzahl; 
das eine und unteilbare Reich in Gaue von gleicher Seelenzahl gegliedert, 
die nach Flüssen und Bergen benannt werden; alle Beamten gleich besoldet 
und in die Hand der Volksvertreter vereidigt; eine einzige christlich-deutsche 
Kirche und daneben kein anderes Bekenntnis geduldet; die Schulen sämt—
	        
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