Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Karl Follen. 439 
lich auf dem flachen Lande, vornehmlich für den Ackerbau und das Hand— 
werk bestimmt; über alledem ein gewählter König mit einem Reichsrate. 
Es war als ob St. Just selber die Feder geführt hätte. Weit verderblicher 
als diese radikalen Doktrinen wirkte auf die Jugend jene niederträchtige 
Sittenlehre, welche Karl Follen mit der Weihe des Propheten vortrug, eine 
völlig bodenlose Moral, noch schändlicher als die Lehren von Marianna und 
Suarez. Die Jesuiten hatten immerhin noch die Autorität der Kirche gelten 
lassen; Follen aber entwickelte aus dem Kultus der persönlichen „Über- 
zeugung“, der unter der Jugend blühte, mit schnellfertiger Logik das System 
eines krassen Subjektivismus, der schlechthin jede objektive Regel im Men- 
schenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Gesetz, hieß es kurzab. Was 
die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den sittlichen Willen verwirklicht 
werden, sofort, unbedingt, ohne jede Rücksicht, bis zur Vernichtung aller 
Andersdenkenden; von einer Kollision der Pflichten kann hier nicht ge- 
sprochen werden, da die Verwirklichung der Vernunft eine sittliche Notwen- 
digkeit ist. Dieser Satz wurde schlechtweg als „der Grundsatz“ bezeichnet, 
und nach ihm nannten sich Follens Vertraute „die Unbedingten“. Für die 
Volksfreiheit schien dieser Sekte alles erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Ver- 
brechen, da ja niemand ein Recht habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten. 
Dergestalt hielt das Evangelium vom Umsturz aller sittlichen und 
politischen Ordnung zum ersten Male in Deutschland seinen Einzug, jene 
furchtbare Lehre, die in mannigfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr- 
hundert stets von neuem beunruhigen und schließlich in der Doktrin der 
russischen Nihilisten ihre höchste Ausbildung empfangen sollte. Follen 
aber hing seinem Nihilismus einen christlichen Mantel um: Jesus, der 
Märtyrer der Überzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes- 
lied mahnte: „ein Christus sollst Du werden!“ Ebenso dreist wurden 
auch die Namen der preußischen Helden, vornehmlich Scharnhorsts und 
Gneisenaus, mißbraucht, von einigen aus naiver Unwissenheit, von Follen 
aus Berechnung: die harmlosen Burschen sollten glauben, daß Deutsch- 
lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgesungenes 
Lied von Buri „Scharnhorsts Gebet“, das von den Brüdern Follen mit 
radikalen Kraftworten ausgeschmückt wurde und für den Druck den falschen 
Titel „Kosciuszkos Gebet“ erhielt, ließ den preußischen General schwören: 
Ich wanke nicht, ich will, sei's auch in grimmen, blut'gen Waffen, 
Der Menschheit Sitz, der Gleichheit Freistaat schaffen! 
Auch Karl Follen selbst schmiedete Verse, obgleich seiner harten Natur 
jede poetische Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulst, die wilde 
blutgierige Rhetorik seiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be- 
wunderer. Als sein Hauptwerk galt „das große Lied“, das durch Weidig 
und Sand massenhaft verbreitet wurde, aber in seinen Hauptstellen nur 
den Eingeweihten ganz verständlich war. Es begann mit einem Aufruf 
„Deutsche Jugend an die deutsche Menge“:
	        
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