Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Goethe und die neue Generation. 39 
das während der schweren Jahre des Leidens und des Kampfes allmäh- 
lich herangereift war, niemals in nahe Berührung; sonst wäre seinem 
scharfen Blicke schwerlich entgangen, daß Männer wie Stein und Arndt ihre 
unerschütterliche Hoffnungsfreudigkeit, ihre sittliche Uberlegenheit, einem 
Hardenberg oder Gentz gegenüber, zu allermeist der Kraft des lebendigen 
Glaubens verdankten. So geschah es, daß auch der letzte und größte 
Vertreter unserer klassischen Epoche von dem wieder erwachenden religiösen 
Leben der Nation wenig bemerkte, und noch auf Jahrzehnte hinaus die 
Geringschätzung kirchlicher Dinge in den Kreisen der reichsten Bildung fast 
als ein notwendiges Zeichen freier Gesinnung erschien. Die spindel- 
dürren Gestalten der Nazarener mit ihrer gesuchten Einfalt, die bald 
süßlichen, bald überschwänglichen Reden der romantischen Apostaten mußten 
Goethes großen Sinn empören; und als er gar die Frau von Krüdener 
auf ihre alten Tage die Erweckte, die gottbegeisterte Seherin spielen sah, 
da wallte sein protestantisches Blut hoch auf und er schrieb kurzab: „Huren- 
pack, zuletzt Propheten!“ Auch die Verfälschung der Wissenschaft durch 
religiöse Gefühle und mystische Ahnungen blieb ihm immerdar ein Greuel, 
und mit hellem Jubel begrüßte er Gottfried Hermanns „kritisch-hellenisch- 
patriotische“" Feldzüge wider Creuzers Symbolik. Er fühlte lebhaft, daß 
alles deutsche Wesen zugrunde gehen mußte, wenn wir jemals unseren 
Weltbürgersinn völlig aufgäben; er ward nicht müde von der Notwendig- 
keit einer Weltliteratur zu sprechen, das Echte und Gute aus den Werken 
der Nachbarvölker zu empfehlen, und fand sogar Worte des Beifalls als 
der geistreiche Russe Uwarow vorschlug, jede Wissenschaft nur in einer konge- 
nialen Sprache darzustellen, also die Altertumskunde nur in der deutschen. 
Ebensowenig wie das überspannte Teutonentum konnten dem Dichter 
die neuen konstitutionellen Doktrinen zusagen. In den einfachen gemüt- 
lichen Verhältnissen des Lebens bewährte er stets eine rührende Güte und 
Nachsicht gegen den geringen Mann, tiefe Ehrfurcht vor den starken und 
sicheren Instinkten des Volksgefühls. Oft wiederholte er: die wir die 
niederste Klasse nennen sind vor Gott gewiß die höchste Menschenklasse. 
Selbst während er an der Iphigenie schrieb, vermochte sein menschen- 
freundliches Herz den Gedanken an die hungernden Apoldaer Strumpf- 
wirker nicht los zu werden. Doch im Staate, in Kunst und Wissenschaft 
zeigte er die aristokratische Gesinnung, die jedem bedeutenden Kopfe natür- 
lich ist, und wahrte streng abweisend das natürliche Vorrecht der Bil- 
dung. Schon in den Volksszenen seines Egmont hatte er sein Urteil über 
die politische Befähigung der Masse unverblümt ausgesprochen. „Verwir- 
rend ist' wenn man die Menge höret“ — so lautete seine Antwort, wenn 
die Wortführer des Liberalismus zuversichtlich beteuerten, die untrügliche 
Weisheit des Volks werde alle Schäden des deutschen Staatslebens zu 
heilen wissen. Das undeutsche Wesen der liberalen Tagesschriftsteller, 
ihre Abhängigkeit von den Doktrinen der Franzosen war seiner deutschen
	        
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