Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

500 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. 
tische Bildung der Zeit erkennen; so der Vorschlag, die Stadtgemeinden 
wieder in Korporationen zu gliedern, oder die Weissagung: bei der Regie— 
rung werde immer das Prinzip der Verbesserung, bei den Ständen das der 
Erhaltung vorherrschen! Gleichwohl enthält die Denkschrift ohne Vergleich 
das Größte und Tiefste, was in jenem Jahrzehnt über Verfassungsfragen 
gedacht worden ist. Von Hardenbergs Anschauungen unterscheidet sich Hum— 
boldt vornehmlich durch den Ernst des Willens; er setzte der Reform eine 
feste Zeitgrenze, was der erschlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte 
spätestens 1822 oder 23 die Reichsstände versammelt sehen. Dagegen erwies 
er den alten Ständen mehr Rücksicht, als in Hardenbergs Neigungen lag, 
blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des 
Rechts, der in der altständischen Bewegung enthalten war. 
In alledem lag doch kein Grund zu ernstem Streite. Verständigten 
sich die beiden Staatsmänner, so konnte sich unter Humboldts Händen 
wohl ein lebensfähiger Verfassungsentwurf gestalten; dem Befehle des 
Königs, der bereits für beratende Stände entschieden, hätte der Mi- 
nister unzweifelhaft gehorcht. Die Geschäfte dauernd zu leiten, vermochte 
er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken 
ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand sich nirgends 
ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war, 
nach allem was geschehen, das vertrauensvolle Zusammenwirken der bei- 
den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Minister einer weiteren 
Mitteilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an seinen Plänen 
fort und legte dem Könige am 2. Mai den ersten Entwurf vor, der in 
kürzerer Fassung schon alle Grundgedanken seines späteren Verfassungs- 
planes enthielt. Der König befahl darauf (3. Juli) die Bildung eines 
kleinen Verfassungs-Ausschusses.“ Da niemand von diesen geheimen 
Beratungen etwas ahnte, so sendeten im Laufe des Jahres noch mehrere 
angesehene Patrioten ihre Verfassungsvorschläge ein. Staatsrat von Rhe- 
diger in Schlesien, der einst bei Steins Verfassungsentwürfen mitgearbeitet 
hatte, überreichte eine überaus doktrinäre Denkschrift, welche, nach heftigen 
Ausfällen gegen das alte Ständewesen und die ÜUberschätzung der Ge- 
schichte, das Volk in drei ganz willkürlich ausgeklügelte Klassen einteilen 
wollte.“") Noch moderner war ein Entwurf von Hippel. Der Verfasser 
des „Aufrufs an Mein Volk“ hatte an dem Sondergeiste der Polen 
üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf er alle Provinziallandtage und 
verlangte einen einzigen preußischen Landtag, welcher, dem heutigen nicht 
unähnlich, in zwei Kammern geteilt werden sollte. Der strenge Monarchist 
verstieg sich sogar bis zu der Doktrin der reinen Parlamentsherrschaft 
und meinte, ohne die Bedeutung seines Vorschlags zu ahnen: die Nation 
*) Hardenbergs Bericht an den König, 3. Mai. Kabinettsordre an Hardenberg, 
3. Juli 1819. Vgl. Beilage VIII. 
*) Rhediger, über die Repräsentation im preußischen Staate, 8. Jan. 1819. 
 
	        
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