Westöstlicher Divan. 43
Sammlung bildete doch eine stille, das irdische Treiben frei überschauende
Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe.“ Die kunstvolle,
in bisher unerhörten Freiheiten sich ergehende Prosodie des Divans diente
den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geschlechts zum Vorbilde.
Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung,
der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne
steife und gesuchte Wendungen erschienen mehr gedichtet und gedacht als
empfunden, manche künstliche Arabesken nur eingefügt um den fremd-
artigen Reiz des Gesamtbildes zu erhöhen. Dafür erschloß der Greis
im Divan, in den Orphischen Urworten, in den unzähligen Sprüchen
seiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der fast für jede Lebens-
frage des Gemüts und der Bildung das rechte Wort bot und erst von
dem heutigen Geschlechte allmählich verstanden wird. Viele Dichtungen
seines Alters gemahnten an jene rätselhaften Runen unseres Alter-
tums, vor denen der germanische Held sinnen und träumen konnte bis
an seinen Tod. Zuweilen wagte er sich bis in die letzten geheimnisvollen
Tiefen des Daseins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das
Wort verstummt und die Musik einsetzt: so in jenem wunderbaren Liede,
das immer leise in der Seele widerklingt so oft ein Strahl himmlischer
Glückseligkeit in unser armes Leben fällt:
Und so lang Du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist Du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
So lebte er dahin in seiner einsamen Größe, unablässig schauend,
sammelnd, forschend, dichtend, ins Endliche nach allen Seiten schreitend
um das Unendliche ahnungsvoll zu ermessen, beglückt durch jeden Son-
nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbstes, wie durch
jedes gelungene Werk der Kunst und jeden neuen Fund im weiten Be-
reiche menschlichen Wissens. Schillers zarter Körper hatte sich vor der
Zeit aufgerieben im harten Dienste der Kantischen Pflichtenlehre; bei diesem
Glücklichen und Kerngesunden erschien die ungeheure, allseitige Tätigkeit
nur wie die natürliche, mühelose Entfaltung angeborener Kräfte. Die
ihm ferne standen ahnten kaum, wie ernst er es selber nahm mit seinem
strengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt
die Nacht, wo niemand wirken kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein
festes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch sein reiches Alter ge-
leitete: wie er sich in frommer Scheu hütete der Vorsehung vorzugreifen
und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen
Gottes erkannte — denn nur so erschien dem Künstler die göttliche Welt-
regierung denkbar. Und da er selber noch mit jedem Tage wuchs als
ob dies Leben nie ein Ende finden könnte, so blieb auch die Jugend immer
sein Liebling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geschlechts