Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

502 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. 
jener unaufhaltsamen Geschwätzigkeit, welche in parlamentarischen Ver— 
sammlungen so oft das echte Talent verdunkelt. Neben diesen beiden 
beliebten Volksmännern erschien der liberale Vizepräsident Seuffert der 
öffentlichen Meinung doch gar zu gemäßigt, weil er mit den gegebenen 
Tatsachen politisch zu rechnen verstand. 
Gleich bei der Eröffnung erfuhr die Krone noch einmal die üblen 
Folgen ihres zweizüngigen Verhaltens gegen den römischen Stuhl. Der 
Papst verbot den geistlichen Mitgliedern des Landtags, den Verfassungs— 
eid zu leisten, da der offenbare Widerspruch zwischen dem Konkordat und 
dem Religionsedikt noch immer nicht ausgeglichen war. Es kam aber— 
mals zu ärgerlichen Verhandlungen; der Nuntius, Herzog von Serra 
Cassano, ein eleganter junger Prälat, der in den Hofkreisen rasch festen 
Fuß gefaßt hatte, drohte bereits abzureisen"). Da fand sich ein wenig 
rühmlicher Ausweg: die Mehrzahl der Geistlichen leisteten den Eid, aber 
unter der Bedingung, daß er nicht gegen die Gesetze der katholischen Kirche 
verstoße; der Staat gestattete diese reservatio mentalis, die allerdings 
verschiedener Auslegungen fähig war, und nur einzelne klerikale Heiß- 
sporne, wie der Fürstbischof von Eichstätt, versagten sich dem Ausgleich. 
Natürlich mußte der jugendliche Parlamentarismus, da er vor allem 
Volke in die Schule ging, auch ein reiches Lehrgeld zahlen. Es fehlte nicht 
an unnützem Gerede noch an kleinlichem Gezänk. Als die Reichsräte in 
ihrer Adresse aussprachen, dies Oberhaus sei berufen, dem Anwogen der 
beweglichen Kräfte des Volksgeistes einen Damm, dem Wandelbaren Festig- 
keit entgegenzustellen, da fühlten sich die Abgeordneten in ihrer Amtsehre 
beleidigt und machten dem modischen Adelshasse in erregten Reden Luft, 
begnügten sich aber schließlich die Außerungen der Adelskammer für „auf- 
fallend“ zu erklären. In unzähligen halbreifen Anträgen kamen alle die 
Klagen und Wünsche zutage, die sich unter der Herrschaft einer schranken- 
losen Bureaukratie allmählich angesammelt hatten, und nicht selten mußte 
die Kammer der Reichsräte die Abgeordneten an die Grenzen ihrer 
verfassungsmäßigen Befugnisse erinnern, da der Krone allein das Recht 
der Initiative zustand. Sehr auffällig zeigte sich dabei, wie weit die poli- 
tischen Durchschnittsanschauungen im Norden und im Süden noch aus- 
einandergingen. Manche Kernsätze der neufranzösischen konstitutionellen 
Theorie, von denen man in Norddeutschland noch wenig sprach, hatten 
in den Staaten des Rheinbundes schon feste Wurzeln geschlagen. So 
baten beide Kammern um die Einführung des öffentlichen Gerichtsver- 
fahrens, und der Kronprinz ließ in den Zeitungen ausdrücklich berichten, 
daß er mit unter den zustimmenden Reichsräten gewesen sei; die zweite 
Kammer verlangte außerdem noch das Schwurgericht, und seitdem ward 
dieser Satz in das Glaubensbekenntnis des deutschen Liberalismus auf- 
  
*) Zastrows Bericht, 29. Januar 1819.
	        
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