Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Savigny, Beruf unserer Zeit. 61 
setze der Rechtsbildung selber aufgefunden werden. Auf viele der schwie— 
rigsten Probleme der historischen Wissenschaft, die dem philosophischen 
Jahrhundert noch ganz unfaßbar gewesen, warf die kleine Schrift ein 
überraschendes Licht. Noch niemand hatte so anschaulich gezeigt, wie die 
Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart selbst wider Wissen und Willen 
der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden sind an das 
Maß der Begabung seines Zeitalters, wie jedes Anwachsen der Kultur 
notwendig einen Verlust in sich schließt, und darum die stolze, dem Zeit— 
alter der Revolution so geläufige Lehre von dem ewigen Fortschritt der 
Menschheit nur den Wert einer unerwiesenen Behauptung besitzt. Noch 
niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats- 
form suchte, so siegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, so führte 
Savigny aus, sind in jeder Staatsverfassung möglich; jene besteht überall 
wo die Staatsgewalt die Natur und Geschichte in den lebendigen Kräften 
des Volkes achtet, dieser überall wo die Regierung nach subjektiver Will- 
kür verfährt. 
Schon elf Jahre früher hatte Savigny in seiner Erstlingsschrift über 
das Recht des Besitzes ein Werk geschaffen, das den besten Leistungen 
der großen französischen Zivilisten des sechzehnten Jahrhunderts gleichkam. 
Nunmehr betrat er mit seiner „Geschichte des römischen Rechts im Mit- 
telalter" ein noch völlig unbebautes Gebiet und deckte den inneren Zu- 
sammenhang des antiken und des modernen Rechts zum ersten Male auf. 
Eine rätselhafte Gunst des Schicksals, die sich nicht mehr Zufall nennen 
läßt, pflegt immer, sobald die sichere Ahnung einer großen neuen Erkennt- 
nis in der Wissenschaft erwacht ist, den Suchenden zu Hilfe zu kommen. 
So fand jetzt Niebuhr im Jahre 1816 zu Verona die Handschrift des 
Gaius; das klassische Zeitalter der römischen Rechtswissenschaft, das man 
bisher fast allein aus den dürftigen Fragmenten der Pandekten kannte, 
trat mit einem Male den Überraschten leibhaftig vor die Augen. Die 
römische Rechtsgeschichte ward durch eine lange Reihe gründlicher Einzel- 
forschungen völlig neu gestaltet, während gleichzeitig Eichhorn seine deutsche 
Rechtsgeschichte weiter führte, Jacob Grimm und viele andere jüngere 
Talente sich in die Quellen des germanischen Rechts vertieften. Die von 
Savigny und Eichhorn herausgegebene Zeitschrift für geschichtliche Rechts- 
wissenschaft bildete den Sprechsaal für die stetig wachsende historische Rechts- 
schule; Savigny aber blieb ihr anerkanntes Haupt und ihr wirksamster 
Lehrer. Die eindringliche Kraft der akademischen Beredsamkeit und das 
schöpferische Genie, die so selten zusammen gehen, fanden sich in ihm 
glücklich vereinigt. Mochte seine vornehme Haltung zuerst manche zurück- 
schrecken, wer ihm näher trat fühlte sich bald ermutigt durch die liebe- 
volle Milde seines Urteils und lernte, daß in der Wissenschaft auch die 
bescheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn sie gewissenhaft in ihren 
Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter schreitend ward die
	        
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