Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Mittelalterliche Forschungen. 67 
der trotz seiner staunenswerten Gelehrsamkeit ebenso unmöglich und im 
Grunde ebenso unhistorisch war wie die leichtfertigsten Verfassungsgebilde 
jakobinischer Volksbeglücker. 
Durch Niebuhrs Forschungen verlor die urteilslose, unbedingte Ver- 
ehrung des Altertums den Boden unter den Füßen; die antike Welt 
ward wieder in den Fluß der Zeit gestellt. Gleichzeitig begann auch eine 
neue Auffassung der mittelalterlichen Geschichte durchzudringen. Die Kultur 
des Mittelalters war von dem philosophischen Jahrhundert leidenschaftlich 
bekämpft, von der jugendlichen Romantik blindlings bewundert worden; 
jetzt versuchte man sie zu verstehen. Der öffentlichen Meinung freilich 
lag der alte Rationalismus noch tief im Blute; sie bedurfte noch einer 
guten Weile bis sie ein wissenschaftliches Urteil über das verhaßte finstere 
Mittelalter ertragen lernte. Als der junge Johannes Voigt seine Geschichte 
Gregors VII. herausgab, ward er von der Presse hart angelassen; der 
treue Protestant mußte den Vorwurf katholischer Gesinnung hören, weil 
er die persönliche Größe Hildebrands ehrlich anerkannt hatte. Indessen 
betrieb Friedrich von Raumer die Vorarbeiten für seine Geschichte der Hohen- 
staufen; und wie Schön für den Wiederaufbau der Marienburg sorgte, 
so setzte Stein die beste Kraft seiner alten Tage an die Sammlung der 
Geschichtsquellen unserer Vorzeit. Zu Neujahr 1819 stiftete er die Gesell- 
schaft zur Herausgabe der Monumenta Germaniae. Sanctus amor pa- 
triae dat animum — so lautete der bezeichnende Wahlspruch des großen 
Unternehmens, das nach und nach einen Stamm historischer Forscher 
heranbilden und für die Kenntnis des deutschen Mittelalters erst den 
sicheren Grund legen sollte. Das alles war noch im Werden; die poli- 
tische Geschichtschreibung fand während der ersten Friedensjahre allein in 
Niebuhr einen klassischen Vertreter. 
Um so reichere Erfolge errangen die Philologen, die sich jetzt erst 
ihrer historischen Aufgabe klar bewußt wurden. Der Ausspruch Boeckhs 
„es gibt keine Philologie, die nicht Geschichte ist“ war in aller Munde. 
Die Sprachforscher erfüllten was die Poeten der Romantik versprochen 
hatten. Nun kam sie wirklich, die Zeit, die einst Novalis geweissagt, 
wo man in Märchen und Gedichten 
erkennt die ew’9gen Weltgeschichten. 
Und auch jenes stolze Wort Friedrich Schlegels, das den Historiker einen 
rückwärts gewandten Propheten nannte, fand jetzt seine Bewährung, da 
plötzlich die ferne, bisher aller Untersuchung unzugängliche Jugendzeit 
der indogermanischen Völker durch die Strahlen der Forschung erhellt 
ward und von ihr wieder ein erklärendes Licht auf die Grundlagen der 
heutigen europäischen Kultur zurückfiel. Derselbe Zug der Zeit, der die 
Ideen der historischen Staats= und Rechtslehre beherrschte, trieb auch die 
Philologen die Sprache als ein ewig Werdendes zu begreifen. Auch sie 
führten, wie Niebuhr und Savigny, den Kampf gegen die Abstraktionen 
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