68 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
des alten Jahrhunderts; auch sie ebneten die Bahn für eine bescheidenere
und eben darum freiere Weltanschauung. Jener hochmütige Wahn, der
die großen objektiven Ordnungen des historischen Lebens aus dem freien
Belieben der einzelnen Menschen herleitete, der Glaube an das Natur-
recht und die allgemein gültige Vernunftreligion brach unrettbar zusam-
men, sobald die Philologie darlegte, was an der Geschichte der Sprache
am handgreiflichsten erwiesen werden kann: daß der Mensch nur in und
mit seinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer seiner
geistvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgesprochen:
die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe sich durch die Einzelnen
und gehe gleichwohl stets vom Ganzen aus. Auf diese Wahrheit, die in
ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Rätsel einschloß, kam
Jacob Grimm immer von neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunstdich-
tung hervorgeht aus dem Volksliede, „das sich selber dichtet", und fand
in dem alten Volksepos weder rein mythischen noch rein historischen Ge-
halt, sondern göttliche und menschliche Geschichte in eines verwachsen.
Da trat ihm, seltsam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte
Romantiker konnte sich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus
des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geschichte Berechnung
und Absicht suchte. Wie er Niebuhrs kritische Kühnheit bekämpfte, so be-
hauptete er wider Grimm: das Volksepos sei das bewußte Werk von
Dichtern, die im künstlerischen Wettkampfe einander durch wunderbare
Erfindungen zu überbieten suchten. In der Tat lief die junge germa-
nistische Wissenschaft Gefahr, jenem mystischen Hange, der die jüngere
Romantik beherrschte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung
der schöpferischen Kraft des Volksgeistes, verfolgte Grimm mit solcher
Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchsigen in der Dichtung,
daß er die freie Tat des künstlerischen Genius fast aus den Augen ver-
lor. Schwächere Köpfe versanken bereits tief in phantastische Torheit;
v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung
und dem Sündenfalle wiederzufinden.
Jedoch der klare, im innersten Kerne protestantische Geist Jacob Grimms
verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wissenschaft,
sondern wendete sich bald einem Bereiche der Forschung zu, das ungleich
festere Ergebnisse verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch seine Deutsche
Grammatik die Wissenschaft der historischen Grammatik. Andere hatten
über die Sprache philosophiert oder ihr Gesetze aufzuerlegen versucht; er
beschied sich ihrem Werden und Wachsen schrittweis nachzugehen, und da
er die ursprüngliche Einheit der germanischen Sprachen schon erkannt
hatte, so zog er alle Zweige dieses Sprachstammes zur Vergleichung heran.
Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts,
erwies er sodann den wichtigen Unterschied zwischen den betonten Wurzel-
silben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den bloß formalen Be-