84 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Wissenschaft, ja selbst der Redlichkeit unseres Volkes noch hochgefährlich
werden sollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überschritt die Philosophie
bald die festen Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; sie ver-
schmähte sich suchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu betätigen,
wie die Alten von ihr verlangten, sondern behauptete schlechthin eines zu
sein mit ihrem Gegenstande, dem Urwissen selbst, eines auch mit der Sitt-
lichkeit, eines sogar mit der Poesie, von der sie einst ausgegangen und
zu der sie einst wieder zurückkehren werde. Wer sich zu der Idee des
Universums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweise, welche der
atomistische Gelehrte mühsam aus den Schachten der empirischen Welt
emporgrub; er gewann aus der Anschauung jener Idee selbst unmittelbar
die Kraft, die Natur zu schaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.
Während seines Aufenthalts in Jena hatte sich Schelling lange allein
dem Ausbau seines naturphilosophischen Systems gewidmet. Erst in den
geistvollen Vorlesungen über das akademische Studium (1803) wandte er
sich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geschichte zu. Ein
glücklicher Instinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung
der Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube,
das Leben im Staate der Punkt sei, um welchen sich alles bewegt“, und
arbeitete dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung
seiner „geschichtlichen Philosophie". Die Naturphilosophie blieb fortan
seinen Schülern überlassen und verfiel bald gänzlich in mystische und
magische Spielerei; der Wundermann Ennemoser sah schon die Zeit kom-
men, da die Priester, im glücklichen Alleinbesitze der magnetischen Heil-
kunde, wieder Leib und Seele der Völker beherrschen würden. Der Meister
selbst aber gelangte, da er in die historische Welt einkehrte, zu den frucht-
barsten und gesündesten Gedanken seines Lebens; seinem Künstlergeiste
kamen wirklich Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Wesen der Dinge
unmittelbar vor die Augen führten.
Aus der Anschauung der ewigen Entwicklung des historischen Lebens
ergab sich ihm mit Bestimmtheit, was Herder doch nur geahnt hatte: die
Erkenntnis, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden
Vernunft und darum als notwendig werdend zu verstehen seien. Die voll-
endete Welt der Geschichte fand er in dem Staate, dem großen Kunstwerke,
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menschen, sich selber
Zweck sei und die Harmonie von Notwendigkeit und Freiheit in dem
äußeren Leben der Menschheit verwirkliche. Manche köstliche Aussprüche
ließen erkennen, wie tief er in das innerste Leben der Geschichte einge-
drungen war; seinem bildungsstolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:
„ein aufgeklärtes Volk, das alles in Gedanken auflöst, verliert mit dem
Dunkel auch die Stärke und jenes barbarische Prinzip, das die Grundlage
aller Größe und Schönheit ist.“ Jedoch zum Abschluß gelangte seine Ge-
schichtsphilosophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-