Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

84 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
Wissenschaft, ja selbst der Redlichkeit unseres Volkes noch hochgefährlich 
werden sollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überschritt die Philosophie 
bald die festen Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; sie ver- 
schmähte sich suchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu betätigen, 
wie die Alten von ihr verlangten, sondern behauptete schlechthin eines zu 
sein mit ihrem Gegenstande, dem Urwissen selbst, eines auch mit der Sitt- 
lichkeit, eines sogar mit der Poesie, von der sie einst ausgegangen und 
zu der sie einst wieder zurückkehren werde. Wer sich zu der Idee des 
Universums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweise, welche der 
atomistische Gelehrte mühsam aus den Schachten der empirischen Welt 
emporgrub; er gewann aus der Anschauung jener Idee selbst unmittelbar 
die Kraft, die Natur zu schaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben. 
Während seines Aufenthalts in Jena hatte sich Schelling lange allein 
dem Ausbau seines naturphilosophischen Systems gewidmet. Erst in den 
geistvollen Vorlesungen über das akademische Studium (1803) wandte er 
sich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geschichte zu. Ein 
glücklicher Instinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung 
der Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube, 
das Leben im Staate der Punkt sei, um welchen sich alles bewegt“, und 
arbeitete dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung 
seiner „geschichtlichen Philosophie". Die Naturphilosophie blieb fortan 
seinen Schülern überlassen und verfiel bald gänzlich in mystische und 
magische Spielerei; der Wundermann Ennemoser sah schon die Zeit kom- 
men, da die Priester, im glücklichen Alleinbesitze der magnetischen Heil- 
kunde, wieder Leib und Seele der Völker beherrschen würden. Der Meister 
selbst aber gelangte, da er in die historische Welt einkehrte, zu den frucht- 
barsten und gesündesten Gedanken seines Lebens; seinem Künstlergeiste 
kamen wirklich Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Wesen der Dinge 
unmittelbar vor die Augen führten. 
Aus der Anschauung der ewigen Entwicklung des historischen Lebens 
ergab sich ihm mit Bestimmtheit, was Herder doch nur geahnt hatte: die 
Erkenntnis, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden 
Vernunft und darum als notwendig werdend zu verstehen seien. Die voll- 
endete Welt der Geschichte fand er in dem Staate, dem großen Kunstwerke, 
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menschen, sich selber 
Zweck sei und die Harmonie von Notwendigkeit und Freiheit in dem 
äußeren Leben der Menschheit verwirkliche. Manche köstliche Aussprüche 
ließen erkennen, wie tief er in das innerste Leben der Geschichte einge- 
drungen war; seinem bildungsstolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu: 
„ein aufgeklärtes Volk, das alles in Gedanken auflöst, verliert mit dem 
Dunkel auch die Stärke und jenes barbarische Prinzip, das die Grundlage 
aller Größe und Schönheit ist.“ Jedoch zum Abschluß gelangte seine Ge- 
schichtsphilosophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-
	        
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