88 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trocknen Verstän—
digung der Rationalisten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem
unwahren Scheinfrieden mit der Wissenschaft, sie setzten die notwendige
Übereinstimmung von Glauben und Wissen stillschweigend voraus. Beide
bewegten sich noch in einem Gedankenkreise, welchen die lebendigen Kräfte
der Literatur längst verlassen hatten. Der unfruchtbare Streit über die
Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Außere der Reli—
gion, nicht ihr Wesen.
Unterdessen erzog Schleiermacher eine neue Theologenschule, die von
dem Meister lernte mit dem jungen wissenschaftlichen Leben der Nation
wieder Schritt zu halten. Er hatte einst das weckende Wort gesprochen,
das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurückrief
und das Gottesbewußtsein über das Gebiet des Wissens und des Han—
delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt diesen
fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften sowie in seinen meister-
haften Berliner Kathedervorträgen wissenschaftlich ausgestaltete, wurde er
der Erneuerer unserer Theologie, der größte aller unserer Theologen seit
dem Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutscher
Theolog zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers
Ideen abgerechnet hat.
Das Geheimnis langanhaltender geistiger Wirksamkeit liegt zumeist
in der harmonischen Verbindung scheinbar entgegengesetzter Gaben; und
selten war ein schöpferischer Kopf zugleich so vielgestaltig und so harmonisch
wie dieser Proteus, der in drei grundverschiedenen Zeiten, in der ästhetischen,
der patriotischen und der wissenschaftlichen Epoche alle Wandlungen des
Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie sich selbst
verlor. Unter den beschaulichen Schwärmern der Herrnhuter Brüdergemeinde
hatte er seine ersten bestimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende
beseligte ihn das Bewußtsein persönlicher Gemeinschaft mit seinem Erlöser;
aber die Innigkeit seines religiösen Gefühls ward in Schranken gehalten
durch einen schneidigen Verstand, der aller dialektischen Künste Meister
war und sich gern in beißendem Witz erging. Er hatte einst, als er die
Briefe über Schlegels Lucinde schrieb, sich sehr weit in die unwahre
Gefühlsschwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des
Herzens bewahrt, die mit den Jahren allmählich sein ganzes Wesen ver-
klärte und den unscheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er-
scheinen ließ. Der Ubersetzer Platons war heimisch in allen Tiefen der
Spekulation und darum imstande die Philosophie mit ihren eigenen Waffen
zu bekämpfen, sobald sie sich erdreistete, das Abgeleitete an die Stelle des
Ursprünglichen zu setzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe
zu erklären. Er suchte alles Menschliche religiös zu behandeln und das
ganze gelehrte Wissen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und
doch konnte er nicht leben ohne die volkstümliche Tätigkeit des Predigers.