Steigende Macht der Ultras. 145
ungeheure Erlösung ankündigen!“ Die Blätter der Opposition verriethen
ihre üble Laune indem sie verstohlen die Echtheit des jungen Bourbonen
anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schicksal
auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stammhalter
bescheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein unerhörtes
Glück den französischen Thron von Neuem befestigt habe. Erst die Zukunft
sollte lehren, wie wenig der befangene Blick der Mitlebenden die Bedeutung
der Ereignisse des Tages zu übersehen vermag. Jener wunderbare Glücks-
fall war ein schweres Mißgeschick für Frankreich und die Sache der
Monarchie. Wäre die alte Dynastie damals ausgestorben, so hätte das
Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher stand, kraft
seines Erbrechts den Thron bestiegen, und dann konnte vielleicht ein natio-
nales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder Wurzeln schlagen
und die zerrissene Kette der Zeiten endlich schließen. Die Geburt dieses
Thronerben aber weckte aufs Neue den alten Haß der demokratisirten
Gesellschaft wider das königliche Haus und stachelte den lauernden Ehrgeiz
der Orleans zu unheimlichen Plänen auf.
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da
in Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer aussichtslosen
Minderheit verharrt, so errangen die Parteien der Rechten bei den Neu-
wahlen einen großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging sah
Richelien sich genöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in
das Ministerium aufzunehmen. Das uneinige Cabinet behauptete sich
nur mühsam in dem Gewoge der parlamentarischen Kämpfe. Während
die deutschen Zeitungsleser sich bewunderungsvoll an der glänzenden Bered-
samkeit der Pariser Kammern weideten, war der französische Staat durch
die Gehässigkeit seiner Parteien dermaßen geschwächt, daß seine Stimme
im Rathe der großen Mächte wenig mehr galt. —
Kaum minder bedenklich erschien zur Stunde die Lage Englands.
Die Erbfünde des britischen Parlamentarismus, die Vernachlässigung der
niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Massen,
denen der ersehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirschten in die Zügel,
blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernsten socialen Be-
wegung, und statt die Gefahr durch die Herabsetzung der drückenden Korn-
zölle und andere dringend nöthige wirthschaftliche Reformen zu beschwören
griff das Tory-Cabinet mit rücksichtsloser Härte durch. Fast gleichzeitig
mit den Karlsbader Beschlüssen erschienen die sechs Knebelbills gegen die
Presse und die öffentlichen Versammlungen. Während die Nation über
diese letzte schwere Verletzung ihres Verfassungsrechts noch murrte, begann
sie auch schon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der Staaten-
gesellschaft gesunken war. Gedeckt durch den Silberwall ihrer Meere war
die englische Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem Staate
eingeborene Selbstsucht mit einer cynischen Unbefangenheit, die sich keine
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 10