Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Steigende Macht der Ultras. 145 
ungeheure Erlösung ankündigen!“ Die Blätter der Opposition verriethen 
ihre üble Laune indem sie verstohlen die Echtheit des jungen Bourbonen 
anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schicksal 
auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stammhalter 
bescheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein unerhörtes 
Glück den französischen Thron von Neuem befestigt habe. Erst die Zukunft 
sollte lehren, wie wenig der befangene Blick der Mitlebenden die Bedeutung 
der Ereignisse des Tages zu übersehen vermag. Jener wunderbare Glücks- 
fall war ein schweres Mißgeschick für Frankreich und die Sache der 
Monarchie. Wäre die alte Dynastie damals ausgestorben, so hätte das 
Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher stand, kraft 
seines Erbrechts den Thron bestiegen, und dann konnte vielleicht ein natio- 
nales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder Wurzeln schlagen 
und die zerrissene Kette der Zeiten endlich schließen. Die Geburt dieses 
Thronerben aber weckte aufs Neue den alten Haß der demokratisirten 
Gesellschaft wider das königliche Haus und stachelte den lauernden Ehrgeiz 
der Orleans zu unheimlichen Plänen auf. 
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da 
in Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer aussichtslosen 
Minderheit verharrt, so errangen die Parteien der Rechten bei den Neu- 
wahlen einen großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging sah 
Richelien sich genöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in 
das Ministerium aufzunehmen. Das uneinige Cabinet behauptete sich 
nur mühsam in dem Gewoge der parlamentarischen Kämpfe. Während 
die deutschen Zeitungsleser sich bewunderungsvoll an der glänzenden Bered- 
samkeit der Pariser Kammern weideten, war der französische Staat durch 
die Gehässigkeit seiner Parteien dermaßen geschwächt, daß seine Stimme 
im Rathe der großen Mächte wenig mehr galt. — 
Kaum minder bedenklich erschien zur Stunde die Lage Englands. 
Die Erbfünde des britischen Parlamentarismus, die Vernachlässigung der 
niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Massen, 
denen der ersehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirschten in die Zügel, 
blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernsten socialen Be- 
wegung, und statt die Gefahr durch die Herabsetzung der drückenden Korn- 
zölle und andere dringend nöthige wirthschaftliche Reformen zu beschwören 
griff das Tory-Cabinet mit rücksichtsloser Härte durch. Fast gleichzeitig 
mit den Karlsbader Beschlüssen erschienen die sechs Knebelbills gegen die 
Presse und die öffentlichen Versammlungen. Während die Nation über 
diese letzte schwere Verletzung ihres Verfassungsrechts noch murrte, begann 
sie auch schon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der Staaten- 
gesellschaft gesunken war. Gedeckt durch den Silberwall ihrer Meere war 
die englische Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem Staate 
eingeborene Selbstsucht mit einer cynischen Unbefangenheit, die sich keine 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 10
	        
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