Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

376 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
landtage verlangte, da stieß sie nicht nur in Sachsen und Neuvorpommern, 
wo das alte Zunftwesen noch fortdauerte, auf zähen Widerstand; auch 
die Stände von Preußen, Altpommern, Posen, Westphalen erhoben heftige 
Beschwerden wider den Unsegen der Gewerbefreiheit. In Westphalen schürte 
der hochconservative Schriftsteller H. Schultz die zünftlerische Bewegung. 
Am lautesten klagte die Mark; Marwitz und der feudale Adel kämpften 
Schulter an Schulter mit den Berliner Stadtverordneten und ihrem 
ständischen Wortführer Kaufmann Knoblauch. Alle diese Unzufriedenen 
beriefen sich zuversichtlich auf ihre persönliche Erfahrung, die sie nach der 
alten Unart des politischen Dilettantismus kurzweg zur allgemeinen Regel 
erhoben, und meinten damit die Schulweisheit des grünen Tisches über- 
wunden zu haben; sie klagten über die unerträgliche Ueberfüllung des 
Gewerbs, während in Wahrheit die Zahl der Handwerker in den ersten 
zehn Friedensjahren nicht schneller als die Bevölkerung gestiegen war und 
erst seit 1825 etwas rascher wuchs. Der ganze Zug der Zeit ging wider 
die Gewerbefreiheit. Die romantische Dichtung, die historische Rechtslehre 
und neuerdings auch Hegel's Philosophie weckten den Deutschen wieder die 
Freude an dem vielgestaltigen Genossenschaftswesen ihrer Vorzeit; die Auf- 
hebung der Zünfte erschien jetzt Manchem nur wie ein bureaukratischer 
Gewaltstreich wider die germanische Freiheit. 
In den kleinen Staaten des Nordwestens wurde das Zunftwesen 
nach dem Sturze der Fremdherrschaft überall wiederhergestellt, zur Freude 
der großen Mehrzahl des seßhaften Bürgerstandes. Auch der süddeutsche 
Liberalismus bekannte sich noch nicht zu den wirthschaftlichen Theorien der 
französischen Revolution, weil der gewaltige Bahnbrecher der Gewerbe- 
freiheit, die Großindustrie noch kaum in das Oberland eingedrungen war. 
Rotteck warnte nachdrücklich vor der schwindelhaften Pfuscherarbeit des 
freien Gewerbes, und selbst der junge C. H. Rau, der die Lehren Adam 
Smith's zuerst in Süddeutschland einbürgerte, hielt die Vorzüge des 
Zunftwesens noch für überwiegend. Dazu die allgemeine Furcht dieses ver- 
armten Geschlechts vor dem Gespenste der Uebervölkerung. Jener freudige 
Glaube an den ewigen Fortschritt der Menschheit, der das achtzehnte Jahr- 
hundert so muthig und so leichtsinnig stimmte, war unter den Stürmen 
der Revolution längst verflogen. Der aufgeklärte Absolutismus hatte einst 
der Rekruten und Steuerzahler nie genug haben können; diese neue, durch 
tausend Drangsale heimgesuchte Zeit fragte besorgt, wie alle die Neu- 
geborenen ihr Brod finden sollten. Malthus' Bevölkerungslehre fand, durch 
den Kieler Hegewisch in Deutschland eingeführt, zahlreiche Gläubiger und 
ward von der kleinbürgerlichen Aengstlichkeit vielfach mißverstanden: statt 
durch die Entfesselung der wirthschaftlichen Kräfte freien Raum zu schaffen 
für ein unternehmendes junges Geschlecht, sollte der Staat vielmehr die 
vorhandenen Hausstände in ihrem Erwerbe schützen, die Eheschließung 
erschweren und sich der Nahrungslosen allenfalls durch die Auswanderung
	        
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