Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

724 III. 10. Preußen und die orientalische Frage. 
spanischen Erfolge, ihre napoleonischen Erinnerungen allmählich zu ver— 
essen. 
Diese Gunst der Umstände ward denn auch von Villele geschickt aus— 
gebeutet, und noch im ersten Regierungsjahre des neuen Königs kam das 
Gesetz zu Stande, das den Emigranten eine Milliarde zur Entschädigung 
für ihre geraubten Güter gewährte — das folgenreichste und wohlthätigste 
Gesetz der Restauration; denn nun erst wurden die Grundlagen der neuen 
Gesellschaft, die veränderten Besitzverhältnisse, von allen Parteien ohne Rück— 
halt anerkannt, nun erst war die Möglichkeit gegeben, daß die Parteien, die 
sich conservativ nannten, auch conservativ denken konnten. Aber Villele 
fühlte sich der Gunst des Königs nicht sicher; er wußte, daß Karl's Herz nach 
wie vor den Ultras angehörte. Um sich zu behaupten, näherte er sich, 
wider seine bessere Einsicht, dieser verblendeten Partei und ließ sich durch 
sie von einem Mißgriff zum andern verleiten. Die Kluft zwischen dem 
alten und dem neuen Frankreich that sich wieder auf. Das Gesetz über 
die Kirchenschändung widersprach den Anschauungen der modernen Gesell- 
schaft so gänzlich, daß Niemand an seine Ausführung zu denken wagte; 
selbst wohlgemeinte Gesetzentwürfe stießen auf Widerstand, weil tausend 
unheimliche Gerüchte von der geplanten Wiederherstellung der feudalen 
Gesellschaftsordnung erzählten. Zugleich warnte Graf Montlosier in einer 
feurigen Flugschrift vor der drohenden Herrschaft der Jesuiten. 
Endlich (1827) erreichten die Ultras sogar einen Pärschub und die 
Auflösung des Abgeordnetenhauses, das trotz seiner royalistischen Mehrheit 
ihnen noch nicht gefügig genug schien. Ein großer Wahlsieg der Opposition 
war die Antwort des Landes. Villele trat zurück, König Karl aber fügte sich 
den Thatsachen und berief das gemäßigt-conservative Ministerium Martignac 
(Jan. 1828). Allgemein war die Freude. Zum zweiten male, wie schon 
im Jahre 1819, gab sich Frankreich der Hoffnung hin, seine alte Krone 
werde sich mit dem neuen Staatsrechte endgiltig aussöhnen. Die neue 
Regierung bestand, obwohl sie kein Talent von Villele's Feinheit besaß, 
durchweg aus wohlmeinenden, gemäßigten Männern, und als sie das alte, 
niemals ausgeführte Verbot des Jesuitenordens erneuert hatte, schien sie 
in der Gunst der öffentlichen Meinung festzustehen. Aber das Vertrauen 
des Königs gewann sie niemals. König Karl konnte sich zu diesen Ge- 
mäßigten kein Herz fassen, er bereute bitterlich die Vertreibung der Jesuiten. 
Der alte Emigrantenführer, Graf Blacas, der päpstliche Nuntius und 
der österreichische Gesandte Graf Apponyi setzten alle Hebel ein um Mar- 
tignac zu stürzen. Schon im Spätjahr 1828 kam des Königs Vertrauter, 
der Blindeste aller Ultras, Fürst Polignac von seinem Londoner Bot- 
schafterposten herüber und versuchte unter der Hand ein neues Cabinet 
zu bilden. Diesmal noch vergeblich) 
  
*) Werther's Berichte, Paris 6. Febr., 2. Mai, 16. Dec. 1828.
	        
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