Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

774 Nebenius und der deutsche Zollverein. 
auf Jahrhunderte hinaus bestimmt haben; und dem Leser, wenn er nicht jeden Zu- 
sammenhang in dem Durcheinander verliert, bleibt schließlich der Eindruck, als ob die 
Klärung und Vertiefung der politischen Ideen der Menschheit allein dem stillen Fleiße 
der Gelehrtenstuben, und nicht weit mehr den lauten Kämpfen der Schlachtfelder, der 
Cabinette und Parlamente zu danken sei. 
Solcher Ueberschätzung der Theorie entstammt auch der immer wiederkehrende 
unfruchtbare Streit über die müßige Frage, wer als „der geistige Vater“ einer großen 
politischen Wandlung zu gelten habe. Alle Politik ist Kunst, Ausführung, Einbilden 
der Idee in den spröden Stoff. So gewiß Raphael die Schule von Athen geschaffen hat 
und nicht Papst Julius oder jene römischen Gelehrten, die dem Künstler vielleicht die Idec 
zu seinem Werke dargeboten haben, ebenso gewiß ist der Schöpfer einer großen politischen 
Reform nicht der Denker, der ihre Möglichkeit zuerst ahnte, sondern der Staatsmann, 
der dem neuen Gedanken die lebendige Gestalt zu geben, den Widerstand feindlicher Mächte 
zu besiegen wußte. In der Politik bedeutet die Ausführung sogar noch mehr als in der 
Kunst. Denn fast niemals sieht sich der Staatsmann in der Lage einen festen Plan 
unbeirrt zu verfolgen; jede Idee ist ihm nur ein Entwurf, den er immer bereit sein 
muß mit einem anderen zu vertauschen. Es ist der Ruhm des großen politischen Denkers 
die Zeichen der Zeit als ein Seher zu deuten, die Geister vorzubereiten für die Erkennt- 
niß des Nothwendigen. Gelingt ihm dies, so dauert sein Name im Gedächtniß der 
Menschen; so lange die Welt reden wird von der Einheitsbewegung der Italiener, bleibt 
auch Gioberti's Rinnovamento unvergessen. Nur soll man nicht in urtheilsloser Be- 
wunderung den Denker hinabziehen aus dem idealen Gebiete, das er beherrscht, nicht 
seinen Ahnungen die unmittelbare Wirksamkeit der That andichten. 
Dieser Doktrinarismus, der den ungeheuren Abstand von Gedanken und That nicht 
zu würdigen weiß, hat das Seine gethan, den preußischen Staatsmännern, welche Deutsch- 
lands wirthschaftliche Einheit gründeten, die verdiente Ehre vorzuenthalten, und parti- 
cularistischer Kleinsinn arbeitete ihm getreulich in die Hände. Alle Welt weiß, der deutsche 
Zollverein kam dadurch zu Stande, daß das preußische Gesetz vom 26. Mai 1818 mit 
einigen Aenderungen von anderen deutschen Staaten angenommen wurdez die vieljährigen 
Verhandlungen, welche diese Einigung bewirkten, wurden allesammt zu Berlin geführt. 
Und Angesichts dieser offenkundigen Thatsachen stimmte die deutsche Staatsgelehrsamkeit 
ein lautes Hohngelächter an, als einst König Wilhelm I. die unwiderlegliche Behaup- 
tung aussprach, der Zollverein sei der eigenste Gedanke König Friedrich Wilhelm's III. 
Nicht dem königlichen Gesetzgeber, der das grundlegende Gesetz deutscher Handelspolitik 
erlassen hat, nicht seinen unermüdlichen Staatsmännern, die durch Jahrzehnte daran 
arbeiteten, dies Gesetz durchzubilden und über das gesammte Deutschland auszubreiten — 
nicht diesen Männern durfte der Name der Stifter des Zollvereins gebühren. Um nur 
Preußen nicht das Lob zu gönnen, griff man lieber zu den willkürlichsten Vermuthungen. 
Bald sprach man gläubig die naive Prahlerei Ludwig's I. von Baiern nach: „Der Zoll- 
verein! Ich habe ihn geschaffen.“ Bald sollte Wilhelm von Württemberg, bald irgend 
ein Theoretiker oder ein Staatsmann der Mittelstaaten das Hauptverdienst haben an 
einem Werke, das doch, wie Jedermann weiß, in der preußischen Hauptstadt begonnen 
und vollendet wurde. In der reichen Literatur über den Zollverein fanden sich während 
langer Jahre nur zwei größere Schriften, welche dem Verdienste Preußens völlig gerecht 
wurden: Ranke's bekannter Aufsatz in der historisch politischen Zeitschrift und Aegidi's 
Programm über die Vorzeit des Zollvereins. Erst in jüngster Zeit beginnt die über- 
zeugende Beweisführung der letzteren Schrift Anklang zu finden in weiteren Kreisen. 
Leider sind aber die alten Legenden neuerdings wiederholt worden in einem vortreff- 
lichen Werke, das sich im Uebrigen grade durch die Bekämpfung des falschen Doktrina- 
rismus auszeichnet. In Roscher's Geschichte der Nationalökonomie wird Nebenius wieder 
als „der eigentliche Erfinder des Zollvereins“ gepriesen, weil seine Denkschrift von 1819 
einige Gedanken aussprach, welche mit der späteren Verfassung des Zollvereins eine
	        
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