Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Klage der Braunschweiger Landstände. 99 
bruch bewirkt, und hier zeigte sich zugleich mit erschreckender Klarheit, daß 
die Unsicherheit unseres öffentlichen Rechtes in der schimpflichen Ohnmacht 
des Bundestages ihren letzten Grund hatte. Gegen die Winkeltyrannei 
der schwächsten Reichsstände bot die alte Reichsverfassung immerhin einigen 
Schutz; mehrmals schritten Kaiser und Reich zur Absetzung unverbesser— 
licher kleiner Despoten, noch zur Zeit der französischen Revolution erschien 
zuweilen eine kaiserliche Debitkommission in einem überschuldeten Fürsten— 
tume, um von Reichs wegen die Ordnung herzustellen. Seit aber die 
Bundesakte diesen kleinen Herren die Souveränität gewährt hatte, bestand 
für fürstliche Willkür keine Schranke mehr, und einmal doch mußte an 
einem ungeratenen Sohne des deutschen hohen Adels offenbar werden, 
wie tief der Genuß einer anspruchsvollen Würde ohne Macht ihren Träger 
entsittlichen kann. 
Trotzend auf seine fürstliche Unverantwortlichkeit war Karl von Braun- 
schweig von Stufe zu Stufe gesunken. Er wußte, daß die Deutschen ihn 
verabscheuten, und fand bald eine boshafte Freude daran, seinen selbst- 
verschuldeten schlechten Ruf immer aufs neue zu rechtfertigen. Schon 
vier Jahre vor seinem Sturze schrieb er seiner gütigen Freundin, der 
Prinzessin Amalie von Sachsen, die ihm vergeblich ins Gewissen redete: 
„Man hält es am Ende für einerlei etwas zu sein, wofür man schon 
lange gegolten hat. Jung, hübsch, mächtig und ganz unabhängig mir 
selbst überlassen“ — wie konnte ich anders werden?*) Die schlaffe Nach- 
sicht des Bundestags, der sich in dem Streite der beiden Welfenhäuser 
mit einer beinahe possenhaften Genugtuung zufrieden gab, mußte den 
dreisten Ubermut des verblendeten Fürsten noch erhöhen..“) Schon 
wieder lag seit Jahr und Tag eine Klage gegen Herzog Karl unerledigt 
in Frankfurt: die Bitte des landständischen Ausschusses um Aufrechter- 
haltung der unbestreitbar rechtmäßigen Landschaftsordnung von 1820. 
Wieder wußte Graf Münch, trotz der ungestümen Mahnungen des preu- 
ßischen Gesandten, die Entscheidung zu verzögern; daß Landstände gegen 
ihren Fürsten jemals recht behalten könnten, schien der Wiener Hofburg 
ganz unfaßbar. Auch manche der anderen Bundesgesandten bezweifelten 
die Gültigkeit der neuen Verfassung, weil sie unter einer vormundschaft- 
lichen Regierung vereinbart worden sei, der Vormund aber nicht über das 
Vermögen des Mündels verfügen dürfe. Selbst Wangenheim und einige 
überfeine Köpfe unter den Liberalen teilten diese Zweifel; so mächtig 
war noch, dank der privatrechtlichen Bildung unserer Juristen, jene alte 
patrimoniale Staatslehre, welche Land und Leute nur als fürstliches Haus- 
gut betrachtete. Also unter Bedenken und Gegenbedenken schleppte sich der 
Handel dahin, bis endlich im Spätsommer 1830 die Kommission des 
  
*) H. Karl von Braunschweig an Prinzessin Amalie von Sachsen, 21. Nov. 1826. 
**) S. o. III. 565. 
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