104 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
schweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältnisse riß den
Widerstrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber
unerfahrene, bildungslose und wenig scharfblickende Fürst, überwältigt
durch den seltsamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieser
kleinbürgerlichen Bewegung überschätzte.
Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb
daher mit seinem Gönner Wittgenstein in ununterbrochenem Briefwechsel.
Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun—
schweigischen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarschaft, von Wulffen
und von Alvensleben, das Ländchen bereisen. Beide berichteten der Wahr—
heit gemäß, daß der landflüchtige Fürst von allen aufgegeben sei und
jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünsche.“) Unterdessen
war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes schwarze Buch
vor, worin Herzog Karl seine frevelhaften Regierungsgrundsätze aufge—
zeichnet hatte, und bat geradezu, der König möge den jüngeren Bruder
zur förmlichen Übernahme der Statthalterschaft veranlassen. Bernstorff
hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landständischen
Abgesandten, der noch dazu als persönlicher Feind des vertriebenen Her-
zogs bekannt war, wollte er sich nicht einlassen. Preußen, so berichtete
er dem Könige, müsse „selbst den Schein der Nachsicht in der Beurteilung
eines Aufstandes vermeiden“ und in so ernster Zeit den Nachbarn, ins-
besondere dem nächstbeteiligten hannöverschen Hofe keinen Anlaß zum
Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entscheidung. Demnach
wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungesäumte Absendung eines
Bundeskommissärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernstorff
im Namen des Königs: bis der Bund gesprochen habe, solle er in seiner
„unbestimmten, aber sehr wohltätigen Stellung“ ausharren.**) Der König
wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung
im deutschen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch solange sich
noch hoffen ließb, daß die Bundesversammlung ihre Pflicht erfüllen würde,
wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlassen.
Fast noch vorsichtiger verfuhren die allezeitbedachtsamen hannöverschen
Minister. Sie weigerten sich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch-
tigten der braunschweigischen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen,
baten den Berliner Hof um seinen Rat und legten zugleich in einer langen
Denkschrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des braun-
schweigischen Hauses versuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung
zu bewegen, um also den schlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu
*) H. Wilhelm von Braunschweig an Wittgenstein, 11.15.19.21. Sept. Wulffens
Bericht, 21. Sept. 1830.
*“) Bernstorff, Bericht an den König, 29. Sept., an Herzog Wilhelm, 25. Sept.,
Weisung an Nagler, 27. Sept. 1830. ·