362 IV. 6. Der Deutsche Zollverein.
Auch den Nüchternen schien so viel mindestens sicher, daß die Wundermär
irgendeinen wahren Kern enthalten und die geheimnisvollen, aller Nach-
forschungen und ausgeschriebenen Preise spottenden Feinde des Mißhan-
delten über große Machtmittel gebieten müßten. Nur der Polizeirat
Merker in Berlin und wenige andere gewiegte Kenner der Verbrecherwelt
wagten jetzt schon, zur Entrüstung des gebildeten Publikums, das Kind
Europas für einen gemeinen Betrüger zu erklären, da die Kerkergeschichte
offenbar allen Naturgesetzen widerspräche. Unter den Gläubigen befanden
sich nicht bloß Saphir und ähnliche literarische Klopffechter, sondern auch
ernste, bedeutende Männer, wie der Staatsrechtslehrer Klüber, der Heraus-
geber des Neuen Pitaval Hitzig, vor allen aber Anselm Feuerbach, der, von
tiefem Mitleid ergriffen, mit der ganzen Glut seines leidenschaftlichen
Herzens sich des Findlings annahm und in einer eigenen Schrift die un-
heimliche Kerkergeschichte als „Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben
des Menschen“ schilderte. Also verwöhnt, verzogen, angestaunt und zum
Heucheln geradezu herausgefordert, lebte sich Hauser immer tiefer ein in
seine Lügenwelt, er spielte die ihm halb aufgedrungene Rolle des langsam
aus dem Seelenschlafe Erwachenden nicht ohne Bauernschlauheit und
erlernte allmählich alles wieder, was er schon vor seinen Nürnberger Tagen
gewußt hatte; viel mehr konnten die Erziehungskünste seiner Gönner in
diesen harten Kopf nicht hineinbringen. Als er fühlte, daß sein Ansehen
zu wanken begann, verwunderte er sich selbst und erweckte noch einmal die
Teilnahme aller zarten Seelen, indem er vorgab, daß ein unbekannter
Mörder ihn angefallen habe. Dann lebte er als Schreiber in Ansbach und
wagte dort im Schloßgarten nochmals den nämlichen Versuch, aber diesmal
drang sein Dolch tiefer ein, als er selbst beabsichtigte, und er starb schon
nach drei Tagen (Dez. 1833). Da diese Selbstverwundung sich weder
ganz unzweifelhaft erweisen ließ, noch mit der Feigheit des Burschen leicht
vereinbar schien, so gab Hausers Tod den umlaufenden Gerüchten nur
neue Nahrung. Seine Grabschrift nannte ihn aenigma sui temporis,
und auf der Unglücksstelle im Schloßgarten wurde ein Denkstein errichtet
mit der doppelsinnigen Inschrift: hic occultus occulto occisus.
Nach mannigfachen abenteuerlichen Vermutungen war der Verdacht
entstanden, Hauser sei der im Jahre 1812 geborene und nach wenigen
Tagen gestorbene Erbgroßherzog von Baden; der berüchtigte Major Hennen-
hofer sollte ein totes Kind untergeschoben und den Prinzen aus dem
Wege geräumt haben, um den hochbergischen Zähringern den Thron zu
verschaffen. Beweise, ja selbst verdächtige Anzeichen fehlten gänzlich; aber
der plötzliche Tod der beiden Söhne des Großherzogs Karl hatte schon vor
Jahren viel müßiges Gerede hervorgerufen,!) dem Großherzog Ludwig und
*) S. o. II. 361. Beiläufig sei ein dort angegebenes falsches Datum berichtigt.
Der zweite Sohn des Großherzogs Karl, Prinz Alexander, wurde am 1. Mai 1816
geboren und starb 8. Mai 1817.