W. v. Humboldt und die Sprachwissenschaft. 477
Menschheit, das ihn sein Lebtag beschäftigt hatte, und zeigte: wie der
Mensch nur Mensch ist durch die Sprache, doch gewiß nicht ihr Schöpfer,
da er schon Mensch sein müßte, um sie zu erfinden; wie das Rätselhafte
der Sprache nicht im Reden liegt, sondern im Verstehen, das nur be—
griffen werden kann, wenn man erkennt, daß Ich und Du wahrhaft iden-
tische Begriffe sind; wie die Sprache zugleich der Seele fremd und ihr
angehörig ist, abhängig von den Denkgesetzen und doch frei, da sich das
Widersinnige nicht denken, wohl aber sagen läßt; wie der Organismus der
Sprache durch die ganze Nation geschaffen wird, ihre Kultur hingegen
durch die einzelnen und sie also zugleich national ist und individuell, be-
herrscht durch eine alte Vergangenheit und neu in jedem Augenblicke, nicht
ein Werk, sondern eine Tätigkeit, stufenweise fortschreitend in der Regel,
doch zuweilen auch plötzlich durch die unmittelbare schöpferische Kraft des
Genies, die in ganzen Völkern sich ebenso mächtig zeigt, wie in den ein-
zelnen; wie sie wissenschaftlich behandelt werden kann lediglich als ein
Zeichen für den Gedanken, aber auch lebendig, rednerisch für jede Erkennt-
nis, welche die ungeteilten Kräfte des Menschen fordert, und darum auf
Poesie, Philosophie, Geschichte alle eigentliche Bildung unseres Geschlechtes
beruht.
Vor Jahren hatte der alte Blumenbach die Materialisten aufs
Haupt geschlagen durch die einfache Bemerkung: „Warum kann der Affe
nicht sprechen? Weil er nichts zu sagen hat.“ Was jener nur witzig an-
gedeutet, wurde durch Humboldt endgültig erwiesen: daß die Sprache mit
der Vernunft, dem Selbstbewußtsein unmittelbar gegeben, der Begriff
vom Worte nicht zu trennen und Verschiedenheit der Sprache nichts an-
deres ist als Verschiedenheit der Weltansicht. Aus der Fülle seines un-
vergleichlichen sprachlichen Wissens heraus zeigte er dann im einzelnen,
wie der Gedanke durch das Zeitwort in die Wirklichkeit übertritt, wie der
Relativsatz nur die Eigenschaft eines Hauptworts bezeichnet — und soweiter,
lauter schöpferische Ideen, welche der vergleichenden Sprachwissenschaft
auf lange hinaus die Richtung wiesen. Es war das letzte Vermächtnis
jenes alten stolzen deutschen Idealismus, der einst die Tage von Weimar
und Jena durchleuchtet hatte. Humboldt starb (8. April 1835) noch vor
der Vollendung des Werkes über die Kawi-Sprache, das durch jene Ab-
handlung eingeleitet werden sollte; mit heiterer Ruhe, erhaben über alles
Schicksal, ertrug er die Qualen seiner letzten Krankheit. Neben seinem
Tegeler Schlosse, auf der Höhe über dem blauen See hatte er schon vor
Jahren seiner Gattin und seinem treuen Lehrer Kunth eine weihevolle
Ruhestätte bereitet. Nordische Fichten umgrenzten den stillen Raum, und
von schlanker Säule schaute das Marmorbild der Spes, ein Werk Thor-
waldsens, auf den Efeu der Gräber nieder. Dort ward auch er be-
stattet, der große Hellene germanischen Stammes.
Schon war ein Menschenalter vergangen, seit der Baum der histo-