Böckh und Hermann. Die Naturforschung. 479
Gauß, verschmähte zu lehren. Wie anders stand es jetzt; wie viele kräf—
tige Talente waren auf allen Gebieten der exakten Wissenschaften aufge—
treten, seit Alexander Humboldt wieder in Deutschland weilte. Die Herr—
schaft der träumenden Naturphilosophen ging zu Ende. Zum letzten Male,
im Jahre 1827, ließen sie an dem geistvollen Physiker Ohm ihren Über-
mut aus; der hatte den Zorn der Hegelschen Jahrbücher erregt, weil
die wohlgesicherten Ergebnisse seiner Theorie des Galvanismus mit den
Hirngespinsten des Systems nicht stimmen wollten, und wurde daraufhin
von den Hegelianern des Kultusministeriums so geringschätzig behandelt,
daß er gekränkt sein Lehramt in Köln aufgab. Seitdem war das Selbst-
gefühl der jungen Naturforscher, die sich unter Humboldts Banner zu-
sammenfanden, beständig gewachsen; sie fühlten sich froh als die Träger
eines sicheren, in allem erweisbaren Wissens und lachten über die will-
kürlichen Konstruktionen der Philosophen, während diese kaum noch einen
offenen Angriff wagten. Wohl wurde Hendrik Steffens, der in Schel-
lings Weise Naturphilosophie lehrte, nach Berlin berufen, weil der Kron-
prinz ihn den widerwärtigen Händeln der Breslauer Altlutheraner ent-
ziehen wollte. Sein fürstlicher Gönner glaubte, „daß ein Mann wie Stef-
fens des Lebens in der Hauptstadt zu seinem eigenen Besten bedarf, ebenso-
sehr wie die Hauptstadt an ihm die Akquisition eines ihr fehlenden Cha-
rakters unter den ausgezeichneten Lehrern der Hochschule machen würde“.)
Aber der Einfluß des begeisterten Schwärmers auf die Berliner Wissen-
schaft blieb gering, obwohl seine warme Beredsamkeit manche Zuhörer anzog.
Es klang wie ein wehmütiger Abschiedsgruß der alten an die neue Zeit,
als er beim Doktorexamen (1837) dem jungen Geologen Beyrich bezeugte:
„die Antworten bewiesen, daß der Kandidat sich mehr mit den Gegen-
ständen selbst als mit dem Absoluten beschäftigt hat.“ Die anderen Exa-
minatoren kehrten sich an diesen Tadel nicht, sie huldigten allesamt schon
der ketzerischen Ansicht, daß dem Naturforscher das Absolute sich erst aus
der Erkenntnis der Gegenstände ergeben dürfe.
Wie gründlich diese neue Wissenschaft dereinst noch alle Lebensge-
wohnheiten der Nation verwandeln mußte, das ließ sich bereits an der
jugendlichen deutschen Industrie erkennen. Im Jahre 1785 war in den
Hettstedter Kupferbergwerken in der Grafschaft Mansfeld die erste ganz
von Deutschen gebaute Dampfmaschine aufgestellt worden; jetzt konnte
schon in den meisten Gewerbszweigen der Großbetrieb ohne Dampfkraft nicht
mehr gedeihen, und auch die Landwirtschaft spürte längst die belebende
Kraft der neuen Erkenntnis. Schon unter Friedrich dem Großen hatte der
Berliner Chemiker Marggraf den Rübenzucker dargestellt; doch erst in dem
neuen Jahrhundert begann man die Erfindung praktisch zu verwerten,
und im Jahre 1840 besaß der Zollverein bereits 145 Rübenzuckerfabriken,
*) Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenstein, 23.Okt., 30.Dezbr. 1831, 15. Jan. 1832.