Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Das Portfolio. 539 
ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgeteilt 
worden.*) Diese Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeschreib- 
liches Aufsehen. Mit einem Male ward klar, auf wie schwachen Füßen 
der Bund der Ostmächte stand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie- 
dens von Adrianopel durchaus feindliche Absichten gegen Rußland gehegt 
hatte, ließ sich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich versuchte er sich vor dem 
Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Gesandt- 
schaftsposten in London angetreten hatte, wurde von dem Zaren geflissent- 
lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte sehr lange, 
bis die Verstimmung zwischen den beiden Kaiserhöfen sich legte.) 
Noch vollständiger erreichte Urquhart seinen zweiten Zweck, die Bearbei- 
tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeist für 
Deutschland bestimmt; denn hier in dem Lande der schwärmerischen Fremd- 
brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britischen Kauf- 
mann die Weltherrschaft sichern sollte, am leichtesten Eingang finden. In der 
Tat wurde die Sammlung sofort in Leipzig übersetzt und blieb viele Jahre 
hindurch allen liberalen Zeitungen ebenso unentbehrlich wie das Staats- 
lexikon. Auf das überspannte Philhellenentum der zwanziger Jahre folgte 
eine Zeit der Türkenschwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit 
stehen wollte, mußte mit staatsmännischem Nasenrümpfen auf das himmel- 
schreiende Elend der christlichen Rajahvölker herabschauen; viele der libe- 
ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des 
Sultans die Bannerträger der europäischen Gesittung wären. Auch diese 
Verirrung, die sich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen 
deutschen Idealismus häßlicher anstand als vormals die hellenische Be- 
geisterung, entsprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim- 
mungen des Gemüts; man verherrlichte die Osmanen, weil man den 
russischen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe 
widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich statt der verheißenen 
Freiheit nur die Klassenherrschaft der Bourgeoisie erlangt hatte, galt Eng- 
land wieder für den konstitutionellen Musterstaat und folglich für Deutsch- 
lands wärmsten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie 
gehässig die Briten dem besten Werke der deutschen Politik, dem Zollver- 
eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des 
Hauses Koburg in der Stille mithalfen, so fanden die Märchen der bri- 
tischen Russophoben bei den gebildeten Deutschen leicht Glauben; mancher 
wackere Patriot beschäftigte sich so liebevoll mit den Schicksalen des Bos- 
porus und der ostindischen Kompagnie, daß er des Vaterlandes fast ver- 
gaß. Einer unserer gescheitesten und ehrlichsten Publizisten, C. F. Wurm 
in Hamburg schrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige 
  
*) Frankenbergs Bericht, 12. Febr. 1836. 
**) Maltzans Berichte, 19., 29. Febr., 5. April, 27. Juni 1836.