Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Weitling. Amerikanische Auswanderung. 609 
34000 Köpfe. Manchen dieser Heimatlosen fiel ein trauriges Los, und 
fast alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika 
Erfolg, ehe er sein letztes europäisches Geld verloren hat. Aber die Ent- 
täuschten schwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen 
Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten 
anzupreisen pflegten. Es gibt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit, 
und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa- 
rische Macht auf das Gemüt der Menschen wirkt. Wie einst das Lied 
„Naar Oostland wille wi varen“ verführerisch durch die Dörfer Flan- 
derns klang, so träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück, 
das jenseits des großen Wassers jedem Tüchtigen winken sollte; und so 
wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reise zurück- 
halten konnte, ebensowenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die 
unbestimmte Sehnsucht nach dem Westen. Einem Volke ohne durchge- 
bildete Staatsgesinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen 
Dränger und Vormund sah, mußte diese junge Welt, wo man den Staat 
kaum bemerkte, unwiderstehlich verlockend erscheinen. 
Dort in der Fremde erfuhren die Deutschen täglich, wie stark die 
innere Einheit unseres Volkstums ist. Alle Auswanderer deutscher Zunge, 
auch die Elsaß-Lothringer, die Schweizer, die Osterreicher schlossen sich 
unwillkürlich als Landsleute aneinander, während die Schotten und Iren 
den Engländern fern blieben. Die politischen Flüchtlinge aus den höheren 
Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob sich ihr Bil- 
dungsstand und ihr Ansehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener 
Radikalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher 
Mann von ungewöhnlicher Tatkraft; von den Frankfurter Verschwörern 
Gustav Körner und die beiden Bunsen; aus der Pfalz die angesehenen 
Geschlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Wesselhöft, aus der Thü- 
ringer Burschenschafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutsche 
Blatt der Union, „Die alte und die neue Welt“ erscheinen. Im fernen 
Westen, wo die Deutschen sich besonders zahlreich angesiedelt hatten, gab 
ein anderer Jenenser Burschenschafter, W. Weber, eine deutsche Zeitung 
heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen 
Sünden amerikanischer Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem 
alten Vaterlande gingen alle diese tüchtigen Kräfte unrettbar verloren. 
Die republikanische Gesinnung, die sich in den Briefen der Ausgewan- 
derten aussprach, mußte daheim, im monarchischen Deutschland, die Be- 
griffe verwirren und namentlich den törichten Haß gegen die stehenden 
Heere verstärken. Allgemein, selbst in gemäßigt liberalen Blättern wurde 
behauptet, dies glückliche Amerika schütze sich ganz von selbst, durch seine 
Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man seiner Verwaltung seltsamer- 
weise andichtete; niemand bemerkte die einfache Tatsache, daß die Union 
keine gefährlichen Nachbarn besaß und darum keiner Truppen bedurfte. — 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 39
	        
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