Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Verhandlungen der Vereinigten Ausschüsse. 185 
der Zeit“ sein, das neue Verkehrsmittel solle das Gefühl der Einheit in 
den so weit entlegenen Provinzen erwecken, ihre Volkswirtschaft kräftigen, 
ihre militärische Verteidigung sichern; denn daß die Eisenbahnen mindestens 
Infanteriemassen befördern könnten, hielt man jetzt für möglich. Nur 
der brandenburgische Landtagsmarschall Rochow-Stülpe und einige andere 
seiner konservativen Landsleute wollten an den Nutzen der Neuerung noch 
nicht glauben, und Graf Raczynski meinte traurig, der kümmerliche Ge— 
werbefleiß der Städte Posens könnte den Wettbewerb, den die Eisenbahnen 
bringen würden, schwerlich ertragen. Nunmehr erhob sich die schwierigere 
Frage, was der Staat für den Bau der Eisenbahnen tun solle, und 
bei dieser Beratung ward allen fühlbar, in welcher Verwirrung sich 
das Staatsrecht des Landes befand. Die große Mehrheit der Ausschuß— 
Mitglieder — Graf Arnim selbst gestand dies späterhin ehrlich zu*) — 
wünschte im stillen, daß der Staat die Hauptlinien selbst bauen sollte; 
man fürchtete im Lande den Aktien-Wucher der Börsen und begriff 
nicht, woher die armen Ostprovinzen das genügende Privatkapital auf- 
treiben könnten. Die Regierung aber stand nicht auf der Höhe der Zeit; 
sie entbehrte eines staatsmännischen Sachverständigen, wie ihn die Badener 
an ihrem Nebenius besaßen; sie hielt den Staatsbau für ein zweifelhaftes 
Wagnis und fühlte sich zudem unfrei, weil sie Anleihen ohne Reichsstände 
nicht aufnehmen konnte. 
Darum erklärte Bodelschwingh auf das nachdrücklichste, die Regierung 
habe beschlossen, in den nächsten Jahren keine Eisenbahn selbst zu bauen, 
sie sei jedoch bereit, wie sie es bisher schon mehrmals getan, den Pri- 
vatbahnen für wenige Jahre eine mäßige Verzinsung des Anlagekapitals 
zu verbürgen. Eine solche Zinsengarantie war im Grunde auch nichts 
anderes als eine Vermehrung der Staatsschuld. Niemand wußte das 
besser als der kluge Generalsteuerdirektor Kühne**); indes mußte er schwei- 
gend mit anhören, wie sein vorgesetzter Minister die Versammlung dahin 
belehrte: zwischen einem Bürgen und einem Hauptschuldner bestehe doch 
ein großer Unterschied. Durch die bestimmte Weigerung des Ministers 
wurden die Ausschüsse verhindert, sich über den Staatsbau zu äußern, 
da sie ja nur vorgelegte Fragen beantworten sollten. Die Stimmung 
im Saale ward recht unbehaglich, obgleich man die ruhige Haltung be- 
wahrte; die Reden, die von den ungeübten Sprechern meist abgelesen 
wurden, klangen verlegen; auf allen lastete das drückende Gefühl, daß man 
seine wahre Meinung nicht sagen konnte. Ganz frei von der Leber weg 
sprach nur ein Heißsporn vom Rhein, Kaufmann Brust aus Boppard; 
der meinte, ohne die Reichsstände könne die Krone keine Zinsengarantie 
übernehmen, und verlangte erst genaue Mitteilungen über den Stand 
  
*) Arnim, Denkschrift über die ständischen Angelegenheiten, 13. Mai 1845. 
*) So gesteht er selbst in seinen Denkwürdigkeiten
	        
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