Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Pietismus. Praktisches Christentum. 245 
evangelischen Idee des Priestertums der Laien nicht mehr vertrug, und 
näherten sich also, trotz des tiefen Gegensatzes der sittlichen Grundgedanken, 
den hierarchischen Ansichten der Ultramontanen, während das gebildete 
Bürgertum bereits begann, die konstitutionellen Ideale der Zeit in das kirch- 
liche Leben hinüberzutragen und irgend eine Form des Repräsentativsystems 
für die evangelische Landeskirche erhoffte. Endlich zeigte der neue lutherische 
Pietismus, scheinbar mindestens, eine aristokratische Färbung, welche den 
stillen Adelshaß der bürgerlichen Klassen aufreizen mußte. Der alte 
Pietismus hatte seine feste Stütze an den kleinen Leuten gefunden, und 
solcher Stillen im Lande gab es noch immer viele, aber an der Spitze 
dieser Erweckten standen jetzt fast überall neben den Geistlichen fromme 
Edelleute. Da waren in Mecklenburg die Bernstorff, Oertzen, Bassewitz, 
am Riederrhein der edle Graf von der Recke, in Pommern die Below, 
Blankenburg, Kleist-Retzow, in Schlesien der adlige Kreis, der sich um 
die Prinzessin Marianne und die Gräfin Reden scharte. 
Nun gar in Berlin wurde die strengkirchliche Gesinnung, seit der Hof 
sie begünstigte, bald zur Modesache der vornehmen Welt, und neben der ehr- 
lichen Frömmigkeit trat auch oft eine scheinheilige Kopfhängerei zu Tage. Zu 
den Bibelstunden des Generals Thile drängte sich manches ehrgeizige Welt- 
kind; selbst in militärischen Kreisen sprach man allzuviel von Wiedergeburt 
und Erleuchtung, und an jedem Sonntag zog eine Schar strebsamer Leut- 
nants und Referendare, mit dem Gesangbuch in der Hand, zur Kirche, 
um sich nachher in der Habelschen Weinstube unter den Linden beim Früh- 
schoppen von der ausgestandenen geistlichen Mühsal zu erholen; der Volks- 
witz nannte diese jungen Herren die nassen Engel. Dies alles im Verein 
verstimmte die bürgerlichen Klassen; der echt protestantische Abscheu gegen 
jeden Schein von Gewissensdruck und der kirchenfeindliche Radikalismus 
der neuesten Literatur wirkten zusammen. Wer ein wissenschaftlich ge- 
schulter, gut bürgerlicher Liberaler war, hielt sich verpflichtet, den Geist der 
Finsternis am Hofe zu bekämpfen; der Name der Pietisten wurde bald 
zum Schimpfwort, und nach wenigen Jahren dieses christlichen Regiments 
zeigte sich die große Mehrheit der gebildeten Berliner wieder so ganz un- 
kirchlich gesinnt wie einst vor dem Jahre 1806. 
Ohne jedes Verständnis, nicht selten sogar mit frivolem Spott be- 
trachtete die liberale Welt alle die schönen Unternehmungen christlicher 
Liebe, in denen die strengen Schriftgläubigen ihre religiöse Tatkraft be- 
kundeten. In einer Zeit, da die Massen des Volks schon in Gärung ge- 
rieten und eine furchtbare soziale Revolution sich ankündigte, überließ 
man gedankenlos alle Arbeit des praktischen Christentums allein der or- 
thodox-pietistischen Partei. Während im alten Trappistenkloster zu Düssel- 
thal, inmitten der katholischen Welt, das Kinder-Rettungshaus des Grafen 
v. d. Recke fröhlich aufblühte, gründete nahebei in Kaiserswerth Pastor 
Fliedner (1836) das erste Diakonissenhaus, ein unscheinbarer kleiner Mann,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.