Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

352 V. 4. Die Parteiung in der Kirche 
und Geschichtsforschung doch gar nicht wegleugnen ließ. Sehr tief wurzelte 
in den Massen jener alte gutmütige Rationalismus, der, nach der Weise 
des bekannten „vergnügten“ Katechismus der Holsten, die sittliche Aufgabe 
der Menschheit in einem vergnügten, bürgerlich achtbaren Leben suchte. 
Den frommen westpreußischen Dichter Bogumil Goltz faßte geradezu ein 
Schauder, wenn er dies so ganz im Diesseits aufgehende, aller Heiligung 
entfremdete Geschlecht betrachtete, und er verkündete seine Warnungen in 
einer geistvollen, leider formlosen Schrift: Deutschlands Entartung in 
der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. Hinter den Rationalisten 
stand die breite Masse der Unzufriedenen. Irgendwie mußte sich der 
Groll über die Stockung des öffentlichen Lebens doch Luft machen. Hier 
in den alten Lutherlanden warf er sich zunächst auf die kirchlichen Fragen. 
Dies Land alter Kultur und starker geistiger Regsamkeit trat später 
als alle andern preußischen Provinzen in die Kämpfe des Staatslebens 
ein. Als aber die politische Leidenschaft dann endlich erwachte, da 
verschwand die religiöse Parteiung ebenso schnell, wie sie gekommen war, 
weil sie doch mehr in dem unbestimmten Gefühle allgemeinen Mißmuts 
als in der Empörung des Gewissens ihre Wurzeln hatte. Zur selben 
Zeit entbrannte auch in Königsberg der kirchliche Streit: der Divisions— 
prediger Rupp bekämpfte vor seinen Soldaten das athanasianische Glau— 
bensbekenntnis und wurde dafür von Jacobys Judenkreise mit schaden— 
frohem Lobe überschüttet, von dem Konsistorium aber, auf Andringen des 
frommen Generals Dohna, zur Rechenschaft gezogen. Auch Rupp war ein 
sehr achtungswerter, im Grunde des Herzens christlich gesinnter Geistlicher, 
höher gebildet als die beiden Sachsen; der rücksichtslose Wahrheitsdrang, 
der so tief im Wesen des Protestantismus liegt, verleitete ihn, die Kanzel 
mit dem Katheder zu verwechseln und seiner Herde statt des Brotes der 
Erbauung den Stein theologischer Kritik zu bieten. 
Der Kampf ward heftiger, als Wislicenus auf einer Köthener Ver— 
sammlung (1844) die Frage stellte: ob Schrift, ob Geist? — und rund— 
weg antwortete: unsere Lehre ist nicht schriftgemäß. Da erhoben sich die 
Hallenser Orthodoxen, die dort in der theologischen Fakultät den alters- 
schwachen Rationalismus schon fast ganz überwunden hatten: voran Gue- 
ricke, der einst verfolgte, erst kürzlich wieder eingesetzte strenge Lutheraner, 
ein Mann ohne alle Menschenfurcht, in der Politik fast radikal, in seinem 
religiösen Wunderglauben so folgerecht, daß ihm selbst Bileams redender 
Esel keine Bedenken erregte. Nachher hielt Tholuck Zeitpredigten wider 
den Unglauben, tapfer und beredt, aus der Fülle seines frommen Ge- 
mütes heraus, aber auch hart und ungerecht gegen die Weltanschauung des 
friderizianischen Zeitalters. Unterdessen begann Hengstenbergs Kirchen- 
zeitung Lärm zu schlagen; Hunderte von Geistlichen, Pastor Büchsel voran, 
erklärten in ihren Spalten, daß sie dem ungläubigen Wislicenus die 
Pastoralgemeinschaft aufsagen müßten. So wunderlich hatten die Zeiten
	        
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