Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Geibel. Tieck. 383 
haft nannte, die sinnberückenden Zauberkünste der Teufelin des Venus— 
bergs, diese ganze dämonische, mit der Askese des Mittelalters so wirk— 
sam kontrastierende Welt der Sinnenglut, die der alten Sage doch allein 
Farbe und Leben gibt, verstand der lose Pariser Spötter unvergleichlich 
anschaulicher, feuriger, schöner auszugestalten als sein sittsamerer Gegner. 
Geibel haßte den Pöbel, den Gleichheitswahn des Radikalismus, 
„denn Sünde ward es, aus dem Schwarm zu ragen“, und mit einem 
ehrlichen „Gott helfe mir, ich kann nicht anders“ sagte er Herwegh 
ins Gesicht: daß deine Lieder Aufruhr läuten! „Zu baurn, zu bilden, 
zu versöhnen“ dünkte ihm ein besseres Amt als die Fackel Herostrats 
zu schwingen. Und doch glühte auch sein Herz für die Größe des Vater- 
landes, für ein freies Volk, das fest halten sollte an seinem Gott und 
seinem Recht. Aus den verworrenen Träumen der Zeit fand sein edler 
Sinn sicher die lebendigen Ideale heraus; den alten Kaisertraum seines 
Volkes bewahrte er sich in aller Enttäuschung so treu wie die Hoffnung 
auf den Staat Friedrichs des Großen; für die Rechte Schleswig-Hol- 
steins trat er zuerst unter allen deutschen Dichtern in die Schranken; der 
Konservative scheute sich nicht, auch den Italienern einen rettenden 
Odysseus, den Griechen die Befreiung des Bosporus zu weissagen, und 
nachdem seine ersten Zeitgedichte in dem wüsten Toben des Radikalismus 
fast verklungen waren, sollte er dereinst noch der glückliche Sängerherold 
des neuen Reiches werden. Damals freilich konnte selbst dieser milde, 
sinnige Dichtergeist sich der Ahnung furchtbarer Kämpfe nicht erwehren; 
er sah, wie der Hader der Parteien uns das Mark im Gebeine versengte, 
wie viel tausend Hungergesichter sich vor den Häusern der Reichen drängten, 
und sagte warnend: Deutschland ist todkrank, schlagt ihm eine Ader! — 
  
Wie eine Stimme aus dem Grabe erklang in diese modernen Kämpfe 
hinein der Roman Vittoria Accorombona, Ludwig Tiecks letzte Dichtung, 
kurz vor der Übersiedelung nach Berlin vollendet, wohl das reifste, das 
bestdurchdachte Kunstwerk des alten Meisters, eine in strengem historischem 
Stile gehaltene, selten durch Betrachtungen unterbrochene Erzählung von 
den Greueln des ausgehenden Cinquecento, von den Untaten jenes hoch- 
gebildeten Geschlechts, das jeden starken Menschen in die Wirbel der all- 
gemeinen politischen und sittlichen Zuchtlosigkeit hineinriß und sich so lange 
selbst zerfleischte, bis der bleischwere Schlummer der Fremdherrschaft über 
Italien hereinsank. Die Sinnlichkeit erschien hier immer heidnisch nackt, 
das Verbrechen berechnet, sicher, unbedenklich, die Schuld des einzelnen 
als die notwendige Schuld des Ganzen; das Gewissen schwieg, jeder 
Frevler sagte zu seinen Opfern kalt: cosa katta capo ha. Die Kritiker, 
die den alten Gegner des Jungen Deutschlands längst haßten, beeilten
	        
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