394 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
„gutmütige ins Reale verliebte Beschränktheit“, welche Goethe so oft das
wahre Glück des Dichters nannte. Er liebte seine Menschen und lebte
mit ihnen, er schien sie an sein Herz zu drücken, so daß sie ihm selbst und
den Hörern unvergeßlich blieben, während man den dramatischen Ge-
stalten der anderen oft die Berechnung, die Reflexion anmerkte. Darin lag
schon der Reiz seines Erstlingsdramas, des Kunz von der Rosen; die
noch lose aneinander gereihten Szenen bezauberten den Leser, weil die
goldene Laune des Helden alles verklärte und der treuherzige Frohmut
unseres sechzehnten Jahrhunderts jeden anheimelte. Vor den Brettern
erkannte Freytag selbst, daß dies Stück noch kein Drama war, und nachdem
er das Theater gründlich kennen gelernt, schenkte er ihm zwei bühnen-
gerechte Schauspiele aus der modernen vornehmen Welt, Valentine und
Graf Waldemar. Beide behandelten ein einfaches, aber schönes und ge-
haltreiches Problem; sie zeigten, wie die wahre Liebe eine edle Natur
von der Verbildung der großen Gesellschaft zur sittlichen Freiheit zurück-
führt. Er erlaubte sich viel, weil seine heitere Anmut viel wagen durfte,
doch niemals einen groben theatralischen Effekt. Stärker noch als der fest-
gegliederte Aufbau seiner Dramen wirkten die Charaktere, diese so fest mit
dem Gemüte des Dichters verwachsenen, so ganz in heimlicher Stille
ausgereiften Gestalten, und der freie optimistische Humor, der selbst
in den Spitzbuben noch das Menschliche zu finden wußte.
An der Grenze, dicht neben den Slawen war er aufgewachsen, im
sicheren Gefühle deutscher Überlegenheit, ein stolzer Preuße, ein rechter
Markmanne; auf der Universität wendete er sich der germanistischen Wis-
senschaft zu, und so grunddeutsch blieb seine Empfindung, daß ihn die fremd-
brüderliche Schwärmerei jener Jahre nur anwidern konnte. Wohl lernte
er dankbar aus englischen Romanen und französischen Dramen, doch seine
eigenen Stoffe fand er unwillkürlich nur im Vaterlande. Hier war seine
Welt, selbst der Wunsch, fremde Länder zu bereisen, regte sich ihm kaum
jemals. Amerika, das in den engen Verhältnissen der Dorfgeschichten immer
als das Eldorado der Freiheit erschien, spielte auch in seine Dichtungen zu-
weilen hinein, doch nur wenn er einen seiner Helden durch einen roman-
tischen Zug abenteuerlicher Keckheit von dem deutschen Stillleben dieser
Friedensjahre wirksam abheben wollte. Die Tendenz verschmähte er grund-
sätzlich; endlichen Zwecken, so sagte er stolz, sollten seine Kunstwerke nie-
mals dienen. Und zu seinem Glücke besaß er auch die journalistische Feder-
gewandtheit; er konnte seine literarischen und politischen Gedanken als
Kritiker und Publizist in angemessener Form aussprechen, darum durfte
das Schifflein seiner Dichtung, unbeschwert vom prosaischen Ballast, frei
dahin segeln. Schon diese ersten Dramen verrieten, obwohl sie sich auf den
Höhen der Gesellschaft bewegten, deutlich die bürgerlich-demokratische Ge-
sinnung des Dichters; Bürgerliche vertraten die einfache sittliche Wahrheit,
während der Adel fast nur seine Schattenseiten zeigte. Noch stand Freytag