Semper. Dahlmanns zwei Revolutionen. 409
Ruhmes noch lange unter den Franzosen fortzuleben. Dahlmann sollte —
so mühselig war noch der Entwicklungsgang deutscher Historiker — nie—
mals dazu gelangen, die Geschichte des Volkes zu schreiben, dem doch all
sein Denken galt, und die Darstellung der beiden ausländischen Revolu—
tionen, die er jetzt seiner Nation vorhielt, damit sie die herbe Frucht der
Selbsterkenntnis pflückte, konnte nur so lange das Herz der Deutschen
fesseln, als sie selber noch glaubten, daß fremde Nationen ihnen einfach
zum Vorbilde dienen müßten. In dieser kurzen Zeit aber, etwa ein Jahr—
zehnt hindurch, wirkten die beiden Büchlein sehr stark und heilsam. Sie
wurden die Sturmvögel der deutschen Revolution.
Zum ersten Male gelang es dem ernsten, wortkargen Manne, auch
die breiten Massen des gebildeten Mittelstandes hinzureißen. In unzähligen
Landtags-Anträgen und -Reden der nächsten Jahre klangen Dahlmanns
Kernworte wieder; und wie einstmals die Damen der Pariser Salons arglos
gespielt hatten mit den Ideen Voltaires und Rousseaus, welche bald die
alte französische Gesellschaft in ihren Flammen verzehren sollten, so wurden
jetzt die zwei Revolutionen Dahlmanns nicht bloß von der liberalen Prin-
zessin von Preußen, sondern auch an hochkonservativen deutschen Fürsten-
höfen eifrig gelesen. Furchtbar ernst klang aus beiden Büchern das porro
unum est necessarium heraus, die Forderung, daß Preußen zu kon-
stitutionellen Einrichtungen übergehen müsse. „Unverrückt“, so hieß es
kurzab, „weist der große Zuchtmeister der Welt immerfort auf dieselbe
Aufgabe hin.“ Obgleich Dahlmann, ganz frei von Schlossers morali-
sierender Strenge, auch die Gegner mit menschenfreundlichem Humor zu
würdigen wußte, so sprach er doch seine politischen Ideen mit einem solchen
Nachdruck aus, daß die Zweifelnden sich sittlich beschämt und entmutigt
fühlen mußten.
In der bewußten und gewollten Einseitigkeit dieser Grundgedanken lag
gerade die Stärke der beiden Bücher; denn wer in den Zeiten großer vater—
ländischer Kämpfe ganz unbefangen und leidenschaftslos zu bleiben vermag,
der verdient nicht, sie zu erleben. Niebuhrs Vorlesungen über das Revo—
lutionszeitalter, die fast zur selben Zeit gedruckt erschienen, ließen die
Leserwelt kalt, denn aus ihnen redete die fast verschollene Gesinnung der
Restaurationsjahre Dahlmann verkündete, was die Gegenwart stürmisch
forderte. Den Zunftgelehrten bot er der Blößen genug. Wenn der Histo—
riker immer nur einen Ausschnitt aus der Fülle des Geschehenen zu geben
vermag, so war hier die Grenze doch sehr willkürlich gezogen: die aus—
wärtige Politik und die sozialen Verhältnisse traten ganz zurück; beide
Revolutionen erschienen nur wie Kämpfe um Verfassungsfragen. Die
wenig selbständige Forschung entlehnte viel, hier von Guizot, dort von
Droz; den Vorkämpfern der konstitutionell-monarchischen Gedanken ward
übermäßige Bewunderung gezollt, Hampden erhielt die Stelle zugewiesen,
die allein dem Protektor Cromwell gehört, und Mirabeau erschien auf