416 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
doch die konstitutionelle Monarchie für die tiefsinnigste der bestehenden
Staatsformen, wenn sie nur christlich sei, und mit ihr allein befaßten sich
die Hauptabschnitte seiner Staatslehre; denn sein praktischer, ganz auf
das Wirkliche gerichteter Geist verlangte nach den Kämpfen der Gegenwart.
Gelehrte Untersuchungen über die Verfassungsformen der Vergangenheit
reizten ihn nicht, auch hätte sein mäßiges historisches Wissen dazu schwerlich
ausgereicht. Die Idee des christlichen Staates verstand er in einem großen
und freien Sinne; er wollte keineswegs eine Staatskirche, sondern forderte
nur, daß der Staat in Verfassung, Rechtspflege und Verwaltung die christ-
liche Wahrheit befolgen, die Kirchen beschützen, in seinen öffentlichen Hand-
lungen sich selbst zum Christentum bekennen und demnach den Nicht-
christen zwar alle bürgerlichen, doch nicht die politischen Rechte und Amter
einräumen solle.
Als die Entscheidung der preußischen Verfassungskämpfe herannahte,
verlangte Stahl (1845) in dem meisterhaft geschriebenen Büchlein über
„das monarchische Prinzip“ beschließende, regelmäßig wiederkehrende
Reichsstände, damit die Krone nicht durch die Macht der Ereignisse über-
holt würde. Doch zugleich erwies er, welche Schranken der konstitutio-
nellen Ideen durch Deutschlands monarchische Geschichte gesetzt sind, und
mochte er auch über einzelne Fragen allzu ängstlich urteilen, so ver-
diente er doch wahrlich nicht, daß Dahlmann ihn verspottete; denn welt-
kundiger als Dahlmann selbst erkannte er gerade die gefährlichsten Irr-
tümer der herrschenden liberalen Doktrin, Irrtümer, von denen sich erst
ein späteres Geschlecht nach schweren Erfahrungen befreit hat. Er zeigte
den Aberwitz des unbeschränkten Widerstandsrechts, die Unmöglichkeit einer
allgemeinen Steuerverweigerung und erwies siegreich, daß Preußens demo-
kratisierte Gesellschaft weder die Herrschaftder Parlamentsmehrheit ertragen,
noch des persönlichen Willens der Krone entbehren kann; was er sodann
über die Gefahren der reinen Kopfzahlwahlen sagte, beginnt erst heute
ganz verstanden zu werden. Er wünschte einen ständisch gegliederten Reichs-
tag, der alle die großen sozialen Gegensätze der modernen Gesellschaft in
sich enthalten, insgesamt aber nicht die Interessen der einzelnen Stände,
sondern die einige Nation vertreten sollte, und war also berechtigt, diese
ständische Monarchie konstitutionell zu nennen. Unter den systematischen
Theoretikern der hochkonservativen Parteien stand Stahl ebenso unver-
gleichlich da wie Gentz unter ihren Publizisten. Die Zeit war jedoch nicht
in der Stimmung, ihm gerecht zu werden. Schon der Name des christlichen
Staates genügte, um die vom Judentum beherrschte Presse wider ihn
aufzuregen; und allerdings beurteilte er die inner-kirchlichen Fragen von
Haus aus weit weniger unbefangen als die politischen. Wohl infolge
seiner bayrischen Erfahrungen verlangte er für den Lehrstand der evan-
gelischen Kirche eine Macht, die sich mit der evangelischen Freiheit nicht
mehr vertrug. Also beständig ankämpfend wider die öffentliche Meinung,