418 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
Aufzählung behandelt worden, selbst Schlosser ließ die literarische Bewe-
gung und die politischen Machtkämpfe noch ganz unvermittelt nebeneinander
hergehen. Erst Gervinus versuchte die Wechselwirkung beider zu begreifen,
den Stammbaum unserer literarischen Ideen nachzuweisen, das Werden
der Dichtung im Zusammenhange mit den Schicksalen, den Taten, den
Empfindungen der Nation, mithin in seiner Notwendigkeit aufzufassen.
Indem er also Goethes Spuren folgte, zeigte er einen Weg, den keiner
seiner zahlreichen Nachfolger ganz verlassen konnte, und gab auch ver-
wandten Fächern eine heilsame Anregung. Um dieselbe Zeit unter-
nahmen Schnaase und Kugler, beide noch suchend und mit stark sub-
jektivem Urteil, die Kunstgeschichte als ein Ganzes darzustellen. Un-
ausbleiblich mußten bei der ersten Bewältigung eines so massenhaften
Stoffes viele Irrtümer mit unterlaufen, und ebenso unvermeidlich war
der zweischneidige Erfolg dieser jungen Wissenschaft: den einen erweckte
sie ein denkendes Bewußtsein unseres ästhetischen Werdeganges, die anderen
bestärkte sie in der Modetorheit des Jahrhunderts der Konversations-
lexika, in der Neigung, über ungelesene Bücher vorlaut abzusprechen.
Leider krankte dies grundlegende Werk an barbarischer Formlosigkeit.
Der Kritiker, der alle deutschen Schriftsteller, sogar einen Goethe, wegen
ihres Stiles meisterte, konnte selber nicht deutsch schreiben: keuchend,
zerzaust und zerfetzt kam der Leser wieder ins Freie, wenn er sich eine
Weile durch das Dorngestrüpp der verfitzten Gervinusschen Sätze hindurch-
gearbeitet hatte. Und welch ein unleidlicher griesgrämischer Ton klang
durch das Werk. Die alte norddeutsche Todsünde der Tadelsucht fand in
diesem Süddeutschen ihren nie übertroffenen Meister.
Wessen er fähig war im Zanken und Schelten, das hatte er schon
vor Jahren bewiesen durch sein abscheuliches Büchlein „über den Goethischen
Briefwechsel“. Damals, wenige Jahre nach des Dichters Tode, meinte sich
der dreißigjährige junge Mann berechtigt, „gegen die wunderliche Goetho-
manie unserer Tage“, die doch nur in sehr engen Kreisen herrschte, zu
Felde zu ziehen, und er wagte dem wahrhaftigsten aller Menschen vorzu-
werfen, Goethes letzte Schriften und Briefe seien nur geschrieben, „um
das Publikum zu mystifizieren“, gleich den Memoiren von St. Helena!
Wenn der erste unserer Dichter also verleumdet wurde, was konnten die
übrigen erwarten? Warmen Dank empfing eigentlich nur Lessing, der als ein
Held der Aufklärung bei Gervinus ebenso hoch in Gunst stand wie bei seinem
Lehrer Schlosser. Fast alle anderen Dichter mußten einen solchen Schwall
von Ermahnungen und Ausstellungen über sich ergehen lassen, daß dem
Leser die Freude an der oft treffenden, geistreichen Charakteristik ganz ver-
gällt wurde; nun gar auf die Poeten der neuesten Zeit hagelten die Keulen-
schläge hernieder. Alles malte er grau in grau. Er konnte keinen histo-
rischen Charakter sich frei ausleben lassen; immer mußte er sich selber reden
hören, immer die Dattel vom Feigenbaume fordern, immer wuchtig aus-