Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

422 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
stünde heute das Germanentum in der Geschichte, wenn Goten, Bur— 
gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden sich ihre 
Muttersprache bewahrt hätten; den Deutschen aber, die an diesem Kleinod 
festhielten, blieb in allem Wandel der politischen Zerwürfnisse das Gefühl 
des gemeinsamen Volkstums unverloren, sonst hätten die Nachbarn der 
Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen 
poetischer Willkür verriet sich freilich der alte Romantiker. Die ferne 
Urzeit bezauberte sein Gemüt so mächtig, daß er die Welteroberung 
der wandernden Germanen fast höher schätzte als alles, was sie nachher 
im seßhaften Staatsleben noch geschaffen hatten; und aus dem Gemüte 
entsprang doch auch seine unerweisliche Behauptung, daß die getischen 
Völker des Altertums Goten gewesen wären, er konnte sich die Anfänge 
der germanischen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorstellen. Unter— 
dessen arbeiteten die Brüder schon an einem neuen Werke, dem neuhoch— 
deutschen Wörterbuche. Die wackeren „Weidmänner“ Salomon Hirzel und 
Karl Reimer, die Besitzer der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig 
übernahmen den Verlag, zunächst um den Vertriebenen über die Sorgen 
der amtlosen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig 
sammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einst in Frankreich nur durch 
die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats— 
gewalt gelungen war, wurde in Deutschland vorbereitet durch die freie 
Tätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiste der Freiheit, ganz anders 
als die französische Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für 
ihr Wörterbuch: sie wollten nicht die Sprache an starre Regeln binden, 
sondern sie durch Selbsterkenntnis zu freiem Leben kräftigen. 
Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der scharfe 
Kritiker Karl Lachmann. Er bildete die lebendige Brücke zwischen der 
germanistischen und der klassischen Philologie, er erzog die jüngere Wissen— 
schaft in wenigen Jahrzehnten zu der strengen sicheren Methode, die sich 
die ältere erst durch die Arbeit von Jahrhunderten erworben hatte. Es 
war ein schönes Geben und Empfangen: die klassischen Philologen ihrer— 
seits lernten von den Germanisten, den antiken Volksdialekten, die man 
erst seit dem Erscheinen der Böckhschen Inschriftensammlung recht zu be— 
achten anfing, in eindringender Forschung nachzuspüren. Lachmann war 
durchaus wissenschaftlicher Parteimann, treu, gemütlich, heiter unter den 
Freunden, unerbittlich gegen die Feinde; er verlangte unbedingte Zustim— 
mung, auch wenn er mit überscharfer Kritik die Ilias oder die Nibelungen 
gewaltsam in einzelne Lieder zerstückelte, und wie er an sich selber die 
strengsten Anforderungen stellte, so verdammte er die wissenschaftlichen 
Irrtümer anderer als unsittliche Schwächen. Das junge Philologen— 
geschlecht, das unter seiner Einwirkung emporkam, trat schroffer, unduld— 
samer, hochmütiger auf als die ältere, noch in dem Jahrhundert der 
Humanität erwachsene Generation — und dies in einer Zeit, da die
	        
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