Die neue Naturwissenschaft. 425
Menschengeistes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur—
wissenschaften, unbefangen an, als er sagte: „das eigentliche Studium
des Menschen ist der Mensch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer
einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der
Gestalt und dem Namen nach überliefert.“ Die Naturwissenschaft kann
sich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geisteswissen—
schaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache
schon zur vollen Verstandesreife gelangt sein muß, um die Sätze der
Naturerkenntnis bündig auszudrücken. Jetzt war ein solcher Zeitpunkt ein-
getreten.
Die Philosophie begann zu sinken, aber die Kraft und Geschmeidigkeit
des Denkens, die sie der Nation einst geschenkt hatte, blieb auch den Gegnern
unverloren, und die neue Bahn der empirischen, voraussetzungslosen For-
schung war durch die Historiker schon gewiesen. Der wachsende Reichtum
und die nicht minder schnell wachsende wirtschaftliche Not der Kultur-
völker, die Fortschritte der Technik, die Bedürfnisse des regeren Verkehrs,
die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der
Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Kultur gelten ließen, das alles
im Verein weckte und schärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen
und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die
schöpferische Kraft der Geschichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor.
So geschah es, daß die Naturwissenschaften in einem raschen Anlaufe,
dessengleichen die Geschichte der menschlichen Erkenntnis kaum je ge-
sehen hat, den weiten Vorsprung der Geisteswissenschaften plötzlich ein-
holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieser Umwandlung anfangs den
Deutschen voran, denn unser Wohlstand und Verkehr erholte sich nur
langsam von schweren Mißgeschicken, und die alte ästhetisch-philosophische
Bildung, die auf deutschem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte,
sträubte sich noch lange gegen die neue Erfahrungswissenschaft.
Als nun endlich auch die Deutschen zum Wettkampfe vortraten und
sogleich durch einige Meisterwerke den alten wissenschaftlichen Ruhm der
Nation bewährten, da bemächtigte sich vieler Köpfe ein materialistischer
Rausch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überschätzten die
große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit sie durchdringt, zuerst
überschätzt werden muß. Die Naturwissenschaften erfüllen unmittelbar,
was Baco von aller Erkenntnis forderte, sie geben Macht, ihre Ergebnisse
fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und
gerade in diesen vierziger Jahren, da die Deutschen ihre neuen Eisen-
bahnen noch wie Wunderwerke bestaunten, verbreitete sich in weiten Kreisen
der Wahn, daß die Weltgeschichte ihren alten Inhalt verloren hätte,
die historische Größe der Nationen sich nicht mehr in Politik und Krieg,
sondern in Maschinen und Dungmitteln offenbare — bis dann plötzlich