Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Humboldts Kosmos. 427 
weil die Naturwissenschaften stets Fachwissenschaften sind und bleiben, ihre 
Schriften niemals so vollständig zum Gemeingut aller Gebildeten werden 
können wie die Werke der Geisteswissenschaften. 
Jetzt erhob Jakob Grimm seine warnende Stimme dawider in einer 
Versammlung der Germanisten. Er erwies kurz und schlagend, daß die 
Geisteswissenschaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung 
bleiben müssen, weil sie allein das ganze Menschenleben, auch die Welt der 
Phantasie und des Herzens umfassen; er zeigte, daß sie weltbürgerlich und 
national zugleich sind, die Naturwissenschaften weltbürgerlich schlechthin; 
und nur wo volkstümliche und allgemein menschliche Bildung einander 
durchdringen, entfaltet sich der ganze Reichtum der Weltgeschichte. Er er— 
kannte freudig an, was unser gesamtes Volksleben, und insonderheit seine 
geliebte Sprache, der exakten Forschung verdankte. Die jungen Natur— 
forscher schrieben meistens vortrefflich; ihre klare, bestimmte, einfache 
Prosa nahm den deutschen Geist, der sich so gern zu träumerischen 
Ahnungen versteigt, in eine strenge, heilsame Zucht; doch sie beherrschte 
nur einen kleinen Teil des unermeßlichen Sprachschatzes. Der Stil des 
Naturforschers, der immer von Gesetzen, Begriffen, Gattungen und Arten 
handelt, legt den Ton auf das starre Hauptwort und kann, in seiner Art 
vollendet, schließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stile des 
Historikers, der sich frei in der Welt des Werdens, der freien Taten 
umschaut und darum den Ton auf das erregende, Leben spendende Zeit— 
wort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Gesetze, daß die Kultur— 
sprachen fortgebildet werden zuvörderst durch den Volksmund und die 
Dichtung, sodann durch Redner, Historiker, Philosophen; die neuen von 
den exakten Wissenschaften geschaffenen Kunstausdrücke waren in ihrer 
Mehrzahl international und zeigten schon durch ihre willkürliche Form, 
daß sie nicht der Naturgewalt des Sprachgeistes, sondern verständiger 
Berechnung entsprangen. 
Vorderhand blieb die Überhebung, die sich unter den Lobrednern 
der realistischen Bildung schon hie und da kundgab, noch ganz ungefähr- 
lich. Mit gerechtem Stolze freute sich die Nation an den kühnen Ent- 
deckungen ihrer Naturforscher, und der greise Humboldt pries sich glück- 
lich, diesen neuen Tag noch zu erleben. Er hatte sein Lebelang, anfangs 
fast allein, festgehalten an der Methode der gewissenhaften Induktion; 
nun sah er befriedigt, daß die junge Generation schon gar nicht mehr 
anders atmen konnte als in der reinen Luft der bewußten Empirie. 
In dem Kosmos zog er jetzt die große Summe seines Lebens. Schon 
vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf seiner Reise mit Georg 
Forster, hatte er sich zuerst die Frage vorgelegt, ob es wohl möglich sei, 
die gesamte Natur als ein geordnetes Ganzes zu begreifen und dar- 
zustellen. Als er dann Südamerika für die Wissenschaft entdeckte, den 
Teil der Erde, der unter allen dem Forscher die mannigfaltigsten Natur-
	        
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