464 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
Berlin kam, und nachher auch gegen den preußischen Gesandten sehr ver-
bindlich, er wünschte einen neuen Handelsvertrag abzuschließen. Die
Gelegenheit zu einem solchen Abkommen bot sich bald, da der Kartellver-
trag über die Auslieferung der Flüchtlinge im Jahre 1842 ablief. Dies
Kartell war für Rußland unschätzbar, weil die leibeigenen Soldaten sehr
oft nach Preußen zu desertieren versuchten. Preußen dagegen empfand
es nur als eine Belästigung; denn preußische Flüchtlinge gab es kaum,
und die russischen wurden, sobald sie der Wachsamkeit der Grenzbehörden
entgingen, als kräftige Feldarbeiter von den Grundbesitzern in Posen
und Ostpreußen nicht ungern ausgenommen. Wenn der Berliner Hof
gleichwohl die Erneuerung des Kartells nicht von der Hand wies, so durfte
er sich für einen solchen Beweis freundnachbarlicher Gefälligkeit wohl die
Erleichterung des Grenzverkehrs, die in den Ostprovinzen überall stürmisch
gefordert wurde, und einige Zollermäßigungen ausbedingen. Deshalb
wurden im Frühjahr 1842 Unterhandlungen eingeleitet und das Kartell
noch vorläufig auf ein halbes Jahr verlängert.5)
Als der König darauf im Juni selbst nach Petersburg kam??), da
bereitete der Zar dem Gaste seines Hauses eine orientalische Überraschung,
derengleichen im Abendlande kaum möglich war. Er erklärte, aus reiner
Freundschaft für den König wolle er sofort den Grenzverkehr, wie Preußen
wünschte, etwas erleichtern, auch mehrere neue Grenzämter einrichten und
die Zölle auf einige preußische Waren, Seide, Baumwolle, Eisen ernie-
drigen. Diese Gewährungen sollten sogleich durch einen Ukas eingeführt
werden Gegenleistungen verlangte er nicht; vielmehr überließ er die
Erneuerungen des Kartells und die Herabsetzung der Durchfuhrzölle für
russisches Getreide vertrauensvoll „der Billigkeit und den freundschaft-
lichen Gefühlen des Königs“. Die plumpe List konnte bei Friedrich Wil-
helms argloser Hochherzigkeit vielleicht gelingen; doch zum Glück begleiteten
ihn zwei nüchterne, geschäftskundige Unterhändler, die Kabinettsräte Uhden
und Müller. Beide warnten dringend, und in Berlin erriet man sofort,
wo der Zar hinaus wollte. Er rechnete — so schrieb General Thile —
„daß es ihm durch die Form einer zuvorkommenden Generosität am sicher-
sten gelingen würde, jede weitere Verhandlung zu umgehen und die Be-
dingungen der Vereinigung einseitig zu normieren.“)
Die preußische Regierung behandelte mithin die Gewährungen des
Zaren, wie es sich zwischen zivilisierten Staaten ganz von selbst versteht,
nur als Vorschläge und verlangte noch einige andere Zugeständnisse.-)
Darüber geriet Nikolaus in Wut; es wurmte ihn gar zu tief, daß man
ihn durchschaut hatte, grimmig schalt er auf den schnöden Undank der
*) Boyen, Bülow, Rochow und Werther, Bericht an den König, 8. März 1842.
**) S. o. V. 170.
***) Thiles Bericht an den König, 22. Sept. 1842.
)Bülow, Weisung an Rauch, 20. Aug. 1842.