Verfall des Julikönigtums. Belgische Festungen. 525
auch, als er die Mächte aufforderte, die seit zwölf Jahren vertragsmäßig
ausbedungene Schleifung der südbelgischen Festungen, die das kleine König-
reich gar nicht verteidigen konnte, nunmehr endlich durchzusetzen. ) Diesen
„infamen Festungsvertrag“ hatte die Pariser Presse seit Jahren immer
wieder für null und nichtig erklärt. Die Franzosen betrachteten es als
ihr gutes Recht, daß ihnen im Kriegsfalle die festen Plätze des neutralen
Belgiens ohne Widerstand geöffnet würden; und — so friedensselig war
die Welt — als Preußen jetzt an die alte unbestreitbare Vertragspflicht
erinnerte, da zeigten sich Aberdeen, Metternich, Nesselrode allesamt sehr
unlustig. Um Preußens willen wollten sie den Tuilerienhof nicht
kränken..) König Leopold aber beschwor die Mächte (31. März 1845),
sie möchten ihn nur jetzt nicht an die Verträge mahnen, ihm nur jetzt
nicht aus lauter Freundschaft Händel bereiten mit den französischen Nach-
barn und den Parteien daheim. „Bisher“, so schloß er, „hat man mir
freundlich gestattet, selber zu entscheiden, wann die Ausführung der Maß-
regel zeitgemäß wäre, und ich wünsche sehr, daß man auch diesmal
ebenso verfahren möge.“ ***) Die Mächte erhörten seine Bitte, und der
kluge Koburger wußte dafür zu sorgen, daß der rechte Zeitpunkt für die
Erfüllung der Verträge niemals eintrat.
In solchen Zeiten, da die großen politischen Gegensätze ruhen und
kein fruchtbarer neuer Gedanke eine entschiedene Parteistellung erzwingt,
pflegt das kleine diplomatische Ränkespiel zu blühen. Trotz der Legende
von dem Bunde des freien Westens und trotz der persönlichen Vertrau-
lichkeit der beiden Königshöfe stellte sich das belobte herzliche Einvernehmen
zwischen England und Frankreich nie wieder vollständig her. Diesseits wie
jenseits des Kanals hatten die letzten Kämpfe ihren Stachel zurückgelassen,
die natürliche Eifersucht brach überall hervor. Sie zeigte sich, als Eng-
land das Recht, verdächtige Sklavenschiffe zu durchsuchen, verlangte, und
wieder als die Missionäre der beiden Nationen auf den Inseln der Süd-
see sich befehdeten, und nochmals, als Frankreich einen Streit mit den
bösen marokkanischen Nachbarn, um nur Englands Einmischung zu ver-
hindern, durch einen milden Friedensschluß schleunig beilegte. Alle diese
kleinen Händel wurden durch den Parteihaß der Franzosen mit maß-
loser Übertreibung ausgebeutet; die Pariser Presse blieb dabei, dies Mi-
nisterium des Auslands wage nirgends den Fremden die Zähne zu zeigen.
Und allerdings pflegte Guizot die berechtigten wie die unberechtigten Auf-
wallungen der nationalen Empfindlichkeit mit wegwerfender Verachtung
abzufertigen; seinen Hörern war dabei zu Mute, als ob er selbst die
Fragen der auswärtigen Politik nur mit kalter Hundsnase obenhin be-
*) S. o. IV. 80.
**) Berichte von Liebermann, 27. März 1844; von Bunsen, 18. 31. März 1845.
Brunnow an Nesselrode, 8 April 1845.
*77*) König Leopold von Belgien an v. d. Weyer in London, 31. März 1845.