Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Fürstenbesuche in England. 529 
der Türkei sei wie die Teilung eines Diamantrings; es frage sich allein, 
wer den Diamanten Stambul erhalten solle. Ebenso dachten die bri— 
tischen Staatsmänner. Ein Versprechen für die Zukunft wollten sie 
schlechterdings nicht geben, was der Zar bei besserer Kenntnis der eng- 
lischen Politik wohl hätte voraussehen müssen. Seine Reise verfehlte 
ihren Zweck, und wenn ein russisches Rundschreiben nachher von dem 
glücklich erzielten Einvernehmen sprach, so sollten die vieldeutigen Worte 
nur die erlittene Niederlage verhüllen. 
Und nicht bloß in den orientalischen Verhandlungen verriet sich der 
Gegensatz, der beide Höfe trennte. Ganz so schroff wie vormals redete 
Nikolaus allerdings nicht mehr über das Recht der Legitimität; Don Car- 
los und Heinrich V. waren ihm ja beide widerwärtig wegen ihrer per- 
sönlichen Nichtigkeit und ihrer klerikalen Gesinnung. Doch trotz der deut- 
lichen Winke der Königin Victoria wollte er sich auch jetzt noch nicht ent- 
schließen, mit ihrem belgischen Oheim einen regelmäßigen diplomatischen 
Verkehr anzuknüpfen; denn König Leopold hatte ihn erst kürzlich wieder 
scharf gereizt durch die Aufnahme polnischer Offiziere in das belgische 
Heer. Nach der Heimkehr versicherte Nesselrode den fremden Gesandten 
stolz: nunmehr sei die entente cordiale für immer ein leeres Wort.“) 
In Wahrheit wurde die längst schon unsichere Freundschaft der Westmächte 
durch die Reise des Zaren weder erschüttert noch gestärkt. Ludwig Philipp 
witterte gleichwohl Unrat und nach seiner plebejischen Weise beeilte er 
sich ebenfalls zu „seiner Victoria“ hinüberzufahren. Nachdem mittlerweile 
der Prinz von Preußen dem englischen Hofe einen anspruchslos freund- 
schaftlichen, ganz unpolitischen Besuch abgestattet hatte, erschien im Oktober 
auch der Bürgerkönig. Auch er wurde hochgeehrt, sogar mit dem Hosen- 
band-Orden geschmückt; der Lordmayor und die Aldermen von London 
erfreuten sich seiner biderben Ansprachen und seiner kräftigen Handschütte- 
lungen. Dem stolzen Adel aber gefiel er weniger als der Zar, dessen 
Reise doch schon durch ihre soldatische Keckheit Bewunderung erregt hatte. 
Die parlamentarischen Staatsmänner überlief es kalt, wenn der redselige 
Orleans ihnen selbstgefällig erzählte, wie viele Minister er nun schon er- 
hoben und wieder zu Falle gebracht hätte. Robert Peel meinte: er ist 
ein sehr schlauer und gewandter König, sein System mag gut sein für 
Frankreich, nicht für England.) 
Nach Frauenart fühlte sich Königin Victoria durch alle diese Hul- 
digungsreisen lebhaft geschmeichelt; sie meinte gerührt, so viele Freunde 
verdanke sie ihrem geliebten Gatten und dem guten Rufe ihrer glücklichen 
Ehe. Wie wenig indes die Höflichkeit der Fürsten für die Politik bedeutete, 
das lehrte der rastlose diplomatische Kampf im Osten, auf den alten 
  
*) Liebermanns Bericht, 26. Okt. 1844. 
*#*) Bunsens Bericht, 16. Okt. 1844. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 34
	        
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