Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Die Türkei und die Mächte. Stratford Canning. 537 
holte Anfrage des Petersburger Hofes, ob man sich über die Abgrenzung 
der beiden asiatischen Machtbereiche friedlich verständigen könne, wurde in 
London stets zürückgewiesen, weil die Briten dort im Osten ebenso uner— 
sättlich um sich griffen wie ihre Nebenbuhler. 
In der Türkei ließ sich dem russischen Hofe sein vertragsmäßiges 
Schutzrecht über die christlichen Vasallenstaaten nicht mehr bestreiten, und 
Nikolaus gebrauchte es mit hartem Übermute. Als die Serben (1842) 
ihren Fürsten Michael Obrenowitsch abgesetzt und den Alexander Kara- 
georgewitsch auf den Thron erhoben hatten, da schrieb der Zar dem Sultan 
eigenhändig: „Es ist mir sehr schmerzlich zu sehen, wie die Hohe Pforte 
von dem Wege, welchen die bestimmtesten Satzungen unserer Verträge ihr 
vorzeichnen, sich entfernt, wie sie der billigen Rücksichten vergißt, die eine 
Macht mit Recht erwarten konnte, welche soeben erst dem Osmanischen 
Reiche inmitten der es umringenden Gefahren so glänzende Dienste ge- 
leistet hat — und dies um den Triumph der Revolution anzuerkennen, 
um die Wahl eines Fürsten zu genehmigen, welchen aufrührerische Unter- 
tanen die Frechheit gehabt haben mit den Waffen in der Hand auszu- 
rufen, endlich um dem gefährlichsten Beispiel bie verhängnisvollste Ermu- 
tigung zu geben!“ Der ganze Wortschwall bezweckte lediglich, die Pforte 
nachdrücklich an ihre Abhängigkeit zu erinnern; der serbische Thronwechsel 
selbst war dem russischen Hofe gleichgültig. Der geängstigte Padischah 
mußte nunmehr den entthronten Fürsten feierlich absetzen; dann wurde 
der neue Fürst, der inzwischen abgedankt hatte, abermals gewählt. Öster- 
reich aber wagte so wenig wie die Westmächte dies höhnische Possenspiel 
zu verhindern.) 
Am Bosporus selbst war die russische Diplomatie weniger glücklich. 
Als Gönner der Agypter und der Griechen mußte Frankreich der Pforte 
immer verdächtig bleiben. Österreich und Preußen vermochten in Pera nicht 
viel; Metternich war ganz zufrieden, wenn sein geliebter Großtürke nur un- 
behelligt blieb, er sagte beruhigt: „der Fall der Türkei ist nicht so nahe, wie 
man glaubt.“““*) Die aufdringlichen russischen Beschützer aber wurden aus 
der Gunst des Sultans bald ganz verdrängt durch den neuen britischen Ge- 
sandten Stratford Canning, den tüchtigsten Mann, welcher England je im 
Oriente vertreten hat. Ein geborener Herrscher, menschenkundig, fest, wil- 
lenskräftig und doch nicht so ungestüm wie sein Vorgänger Ponsonby, hieß 
Stratford bei den Osmanen der große Elchi, der erste aller Gesandten, und 
bemächtigte sich gänzlich des nichtigen jungen Padischah, von dem er auf- 
richtig sagte: ein Mündel ist mir lieber als ein Nebenbuhler; die Pforte 
vermag ihren eigenen Vorteil nicht zu beurteilen. Gleich vielen seiner 
Landsleute hatte er einst philhellenische Träume gehegt und dann enttäuscht 
*) Zar Nikolaus an Sultan Abdul Mod#schid, 19. Okt. (a. St.) 1842. Canitzs Be- 
richt, Wien, 7. Aug. 1843. 
*“*) Canitzs Bericht, 13. Dez. 1843. 
 
	        
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