Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

614 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
der Mißverständnisse blieb ihrem Charakter treu: der König wähnte mit 
dem Patente für lange Zeit sein letztes Wort gesprochen zu haben, die 
öffentliche Meinung sah darin nur den ersten Anfang eines freieren 
politischen Lebens, und schon jetzt zeigte sich, daß der Gegensatz sich zu— 
spitzen mußte zu der einen Frage der periodischen Landtagsberufung. War 
der Vereinigte Landtag erst seiner regelmäßigen Wiederkehr sicher, dann 
konnte er sich mit Fug und Recht für die gesetzliche Landesvertretung an— 
sehen; die Vereinigten Ausschüsse verloren dann jede Bedeutung, und auch 
der Nebenstreit um die Kriegsanleihen und die Schuldendeputation ließ sich 
leichter erledigen. In der Forderung periodischer Reichsstände fanden sich 
drei ganz verschiedene Parteien zusammen: zunächst alle die besonnenen 
Männer, die der Unsicherheit des öffentlichen Rechts ein Ende machen 
wollten; sodann die entschiedenen Liberalen, die von einem vielköpfigen 
Parlamente für ihre Parteizwecke mehr erwarteten als von einem kleinen 
Ausschuß; dazu endlich die hohe Aristokratie, denn durch den Herrenstand 
des Vereinigten Landtags hoffte sie politische Macht zu gewinnen, während 
sie in den Vereinigten Ausschüssen nur durch wenige Stimmen vertreten 
war. Dies erkannte Kühne, er befürchtete eine Coalition monstreuse 
zwischen den extremen Liberalen und Aristokraten. Mündlich und brief— 
lich stellte er seinem alten Freunde Bodelschwingh vor: diese große Ver— 
sammlung würde nur dann in Frieden zu Ende gehen, wenn der König 
rechtzeitig, bevor man ihn zwänge, in der einen entscheidenden Frage 
nachgäbe und dem Vereinigten Landtage, ebenso wie schon den Vereinigten 
Ausschüssen, die periodische Einberufung zusagte.) 
Welch eine Last lag jetzt auf Bodelschwingh. Einst im Befreiungs- 
kriege hatte eine französische Kugel dem tapferen Kriegsmanne die Lunge 
durchbohrt, und gerade jetzt packte ihn wieder eine jener schweren Lungen- 
entzündungen, die ihn seitdem schon mehrmals heimgesucht hatten. Er 
rang mit dem Tode; den ganzen März hindurch blieb er unfähig zur 
Arbeit. Kaum halb genesen, raffte er sich dann auf, um heldenhaft, fast 
allein, selber ein parlamentarischer Neuling, dieser stürmischen Versamm- 
lung die Stirne zu bieten. Als Minister des Innern und Kabinetts- 
minister zugleich, mußte er die Sache der Krone zunächst vertreten, und 
es ergab sich auch bald, daß er allein unter allen Ministern ein ungewöhn- 
liches Rednertalent besaß. Er war ein Neffe jenes stolzen Freiherrn 
Bodelschwingh-Plettenberg, der einst so hartnäckig die ständischen Rechte 
der Grafschaft Mark verteidigt hatte, ein Liebling Steins und des alten 
Vincke, Westfale durch und durch, und hatte sich doch in den mannig- 
fachen Stellungen einer beispiellos raschen Beamtenlaufbahn überall Liebe, 
selbst in der bösen Zeit des Kölnischen Bischofsstreites die Achtung der 
Rheinländer gewonnen. Die älteren westfälischen Landsleute erinnerte 
  
*) Kühne an Bodelschwingh, 3. April 1847. S. Beilage 35.
	        
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