Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Wechselrecht. Radowitzs Reformdenkschrift. 699 
ihre nüchternen Geschäftsbedenken, einige auch ihre Furcht nicht überwinden 
konnten, General Gerlach aber alle „Germanomanie“ bekämpfte. In einer 
großen Denkschrift vom 20. Nov. stellte Radowitz die Gedanken seines 
königlichen Herrn zusammen. Sie verurteilte in scharfen Worten das 
bisherige Bundessystem. Da hieß es rundweg: „Auf die Frage: was 
hat der Bund seit den 32 Jahren seines Bestehens, während eines beispiel- 
losen Friedens getan für Deutschlands Kräftigung und Förderung? — ist 
keine Antwort möglich. Die gewaltige Kraft der Gegenwart, die Natio- 
nalität ist die gefährlichste Waffe in den Händen der Feinde der öffent- 
lichen Ordnung geworden.“ Darum verlangte Preußen Kräftigung der 
Bundesgewalt nach drei Seiten hin. Zum ersten Sicherung der Wehr- 
haftigkeit des Bundes durch Inspektionen, gemeinsame Übungen, Verein- 
barung über die Reglements, das Kaliber usw. — aber ohne Umsturz 
der bestehenden Heeresverfassung. Zum zweiten gesicherten Rechtsschutz, 
also ein Bundesgericht für staatsrechtliche Streitigkeiten, Einheit des 
Strafrechts, des Handelsrechts, des Heimatsrechts mit voller Freizügigkeit. 
Zum dritten Förderung der materiellen Interessen durch Einheit der 
Münzen und Maße, durch eine Post= und Eisenbahn-Ordnung, durch 
Bundeskonsulate, endlich durch „Ausdehnung des Zollvereins auf den 
Bund“. 
Hochsinnig, gedankenreich, formvollendet wie alles, was aus Rado- 
witzs Feder floß, litt die Denkschrift doch an der traumhaften Unklarheit, 
welche die ganze Nation, mit sehr vereinzelten Ausnahmen, noch befangen 
hielt; sie lief doch hinaus auf die unmögliche Hoffnung, daß ein Bund 
von souveränen Staaten, zu denen drei undeutsche Mächte gehörten, die 
Macht einer nationalen Staatsgewalt ausüben sollte. Und konnte der 
König, der bisher der Hofburg jede Einmischung in seine Zollpolitik stand- 
haft verweigert hatte, jetzt im Ernst beabsichtigen, das größte Werk seines 
Vaters zu zerstören und den Zollverein, wie Metternich längst wünschte, 
dem Bundestage unterzuordnen? Und dies in einem Augenblicke, da die 
Hofburg sich soeben anschickte, die alten Zollschranken zwischen Ungarn und 
den deutsch-böhmischen Kronländern aufzuheben und mithin unzweideutig 
bekundete, daß Osterreich selbst dem Zollvereine nicht beitreten wollte? 
Friedrich Wilhelm ahnte auch dunkel, in welche Widersprüche er sich ver- 
wickelte. Darum ließ er in der Radowitzschen Denkschrift aussprechen, daß 
er zunächst eine Verständigung mit dem Wiener Hofe versuchen, und wenn 
sie gelänge, die genauere Verabredung über die geplanten Reformen ent- 
weder einem Fürstenkongresse oder dem Bundestage unter Österreichs Füh- 
rung überlassen wollte. Käme er in Wien nicht zum Ziele, dann dachte er 
sich, schweren Herzens freilich, allein an den Bundestag zu wenden. Miß- 
länge auch dieser Versuch, dann sollte Preußen „den Geist der Nation“ 
anrufen, die öffentliche Meinung über seine nationalen Pläne aufklären 
und mit den gleichgesinnten Bundesstaaten gemeinnützige Sonderverträge,
	        
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