Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

74 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
entgegensetzen, daß vielleicht die Türkei selbst darüber in Trümmer gehen 
könnte. Palmerston kannte die augenblickliche Lage besser, er versprach sich 
einen raschen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Ägypter. Die 
Verhandlungen zogen sich durch mehrere Monate ohne Entscheidung dahin. 
Unterdessen klagten die Gesandten der drei Ostmächte laut und lauter 
über die „subversive“ Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter 
sprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben 
ebenso kräftig erwidert wurde. Palmerston fühlte sich durch den hart— 
näckigen Widerspruch der Franzosen schwer gereizt und sagte in einem 
Artikel seines Morning Chronicle drohend: England würde sich gezwungen 
sehen, den alten Vierbund der konservativen Mächte zu erneuern. Brunnow, 
der mit seiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungestümen Lord immer 
überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten 
sich die Gesandten mit der russischen Ansicht, daß man die orientalische 
Frage auch zu vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, lösen könne. 
Dennoch zauderte Palmerston noch lange. Die schwache, von Lord 
Melbourne sehr schlaff geleitete Whig-Regierung hatte sich längst über— 
lebt. Schon vorm Jahre war sie durch das Parlament gestürzt und nur 
durch den lächerlichen Zwischenfall der sogenannten Schlafstubenfrage vor- 
läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum 
ersten Male etwas gezeigt, was einem politischen Willen ähnlich sah, und 
sich entschieden geweigert, ihre whiggistischen Hosdamen, wie die Torys 
verlangten, zu entlassen. Nur dieser persönlichen Vorliebe der Monarchin 
verdankten die Whigs die Wiederherstellung ihrer Herrschaft, welche schon 
seit Jahren nicht mehr auf eine feste Mehrheit im Parlamente zählen 
konnte. Und dies altersmüde Kabinett war über die Fragen der großen 
Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon und 
viele andere der nächsten Freunde und Amtsgenossen Palmerstons hielten 
einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor- 
diale oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England 
während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbst 
unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel- 
allianz der liberalen Weststaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro- 
pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des 
alten konservativen Vierbundes ersetzt werden dürfe. Also wurde Pal- 
merston zwischen den verschiedensten Bedenken hin und her geschleudert 
und gelangte immer wieder zu dem Schlusse: man müsse die Dinge hin- 
zuhalten suchen.*) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzustimmen 
und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni schrieb er 
dem drängenden österreichischen Bevollmächtigten Neumann: „Ich ziehe 
eine zeitweilige Verzögerung einem sofortigen schlechten Ende vor.“77) 
*) Bülows Berichte, 26. Mai, 26. Juni 1840. 
*“) Palmerston an Neumann, 11. Juni 1840. 
 
	        
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