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österreichischen Divisionen an der Westfront weiter zu unseren Ungunsten
verschoben. Die durchschnittliche Bataillonsstärke beträgt beim Franzosen
etwa 600, beim Engländer etwa 700, beim Amerikaner etwa 1 200, während sie bei
uns auf durchschnittlich 500 Mann gesunken ist. So ist es nötig, Divisionen, die
abgekämpft und übermüdet aus der Front zurückgezogen waren, oft nach wenigen Tagen
der Ruhe und ohne ausreichende Juführung von Ersatz wieder einzusetzen.
Mit der Fortsetzung der starken feindlichen Angrifse ist zu rechnen. Es ist
daher mehrfach sehr ernst der Entschluß erwogen worden, die Armee in eine kürzere
und Kräfte ersparende Linie, in der ungefähren Linie Antwerpen — westlich Brüssel—
Charleroi— Maas zurüzunehmen. Dagegen sprachen aber schwerwiegende Gründe. Die
politische Lage erforderte es, so lange als möglich größeren Geländeverlust zu ver-
meiden. Die vollständige Räumung des aufzugebenden Gebietes, in dem sich noch bis
vor wenigen Tagen 80 000 Verwundete befanden und das mit ungeheuren Vorräten
an Kriegsmaterial und Vorräten aller Art angefüllt ist, ist nicht unter mehreren Wochen
durchzuführen. Die Eisenbahnlage im besetzten Gebiet, die schon jetzt äußerst gespannt
ist, wird sich bei der Jurücknahme der Front durch den Verlust eines engmaschigen
Eisenbahnnetzes mit zahlreichen leistungsfähigen Betriebsbahnhösen aufs neue derart
verschärfen, daß zwar eine notdürftige Versorgung der Truppen in der neuen Stellung
durchführbar erscheint, die Möglichkeit zu schnellen Truppenverschiebungen hinter der
Front aber nahezu aufhört. Auch führt jeder Schritt rückwärts zu einer Einschränkung
unseres wirtschaftlichen Lebens und damit vor allem zur Schädigung unserer Kriegs-
industrie. «
Immerhin kann die O. H. L. den Entschluß, weiter auszuweichen, nicht länger
herausschieben. Ihre erste Pflicht ist und bleibt es, eine ent-
scheidende Niederlage des Heeres unter allen Umständen zu
vermeiden. Gelingt dem Feinde ein Durchbruch, so besteht aber diese Gefahr,
da die O. H. L. über genügende kampfkräftige Reserven nicht mehr verfügt. Schwenkt
die nördliche Heereshälfte somit allmählich in die angegebene Linie zurück, so ist zu
hoffen, daß für etwa 14 Tage schwere Kämpfe vermieden werden, damit etwas Zeit
und Ruhe für die ermüdete Truppe gewonnen wird. Die militärische Lage
verbessert sich aber im großen nicht, da die Stellung nicht fertig aus-
gebaut ist und die Eisenbahn= und Wirtschaftsfragen sich erheblich verschlechtern. Bei
der Jurücknahme der Front ist es nicht zu vermeiden, daß ein großer
Deil Belgiens wieder schwer geschädigt wird. Wenn auch durch
schärfste Befehle jede Verwüstung des Landes verboten ist, so sind die aus militärischen
Gründen notwendigen Jerstörungen und Härten für die betroffene Bevölkerung nicht
zu vermeiden. .
Die Berichte über die Stimmung im Heere lassen erkennen, daß einzelne Divi-
sionen trotz langen Einsatzes und erheblicher Verluste sich bewunderswertschlugen,während
andere, die frisch in den Kampf kamen, ohne klar erkennbare Gründe versagten. Jeden-
falls haben das Waffenstillstandsangebot und die mutlosen und unzufriedenen Presse-
äußerungen niederdrückend auf die Stimmung gewirkt. Von allen Seiten wird immer
wieder gemeldet, daß die aus der Heimat zurückkehrenden Urlauber und die aus dem
Osten herangeführten Ersatzmannschaften die Stimmung ungünstig beeinflussen. Es
darf nicht unerwähnt bleiben, daß die letzteren häufig von bolschewistischem Geiste an-
gehaucht sind. Wo es gelungen ist, die Stimmung hochzuhalten, ist es insonderheit
das Verdienst einzelner tatkräftiger Vorgesetzter. Es ist daher von ausschlaggebender
Bedeutung, alles zu tun, um das Offizierkorps durch Ausbildung, richtige Anleitung
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