Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

war, daß aber die richtige Grundlage für das Deutschtum, das Gefühl 
„civis Germanus sum“, wie ich es später dem deutschen Volke zu— 
rief, noch durchaus fehlte. Eine solche zu schaffen und in die jungen 
Herzen zu legen, dazu war bei dem verknöcherten altphilologischen 
Lehrplan die Lehrerschaft außerstande. Das Herz, der Charakter der 
Gymnasiasten spielten bei der Art der Lehrmethode keine Rolle, nur 
das Gehirn wurde bearbeftet. Es wurden Bhilologen ausgebildet, 
aber keine für praktische Mitarbeit am jungen Reich geeigneten deutschen 
Staatsbürger, mit anderen Worten: keine selbstbewußten Deutschen. In 
unserem kleinen Lesezirkel habe ich oft versucht, den großdeutschen Ge- 
danken zu behandeln, um partikularistische und andere der deutschen 
Idee entgegenstehende Neigungen zu bekämpfen. Aber vergeblich. 
Schließlich war das bekannte „Buch der deutschen Flotte“ von Admiral 
Werner das einzige Werk, womit das lebendige Empfinden für das 
Deutsche Reich entflammt werden konn#te. Wenn ich in späterer Zeit 
englische Schüler sah und die sportlich erstarkten Knaben z. B. in 
Eton im Geliste mit meinen einstigen überstudierten Kameraden ver- 
glich, dann fiel dieser Vergleich nicht zu meiner Freude aus. Die 
jungen Briten, die von Eroberungen in den Kolonken träumten, von 
Ezpeditionen zur Erforschung neuer Länder, von Ausbreitung des 
Handels, und die Pionkere ihres Vaterlandes sein wollten nach dem 
Wort: „Right or wrong — my Country)“, sie hatten sehr viel weniger 
Latein und Griechisch gelernt, waren aber von dem Gedanken beseelt, 
Großbritanntien noch größer und stärker zu machen. Soviel wurde 
mir nachmals mit aller Deutlichkeit klar: der philologische war nicht 
der Weg, um selbstbewußte Deutsche zu bilden, die an Stolz mit 
den Bürgern anderer Nationen wetteiferten und das „cwvis Romanus 
sum“ auf sich übertrugen, um zu lebendigen Faktoren des Deutsch- 
tums zu werden. 
Aus diesen Uberlegungen heraus erkämpfte ich später gegen den 
Widerstand der Philologie innerhalb und außerhalb des Ministeriums 
133
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.