ungewöhnlich guten Gedächtnis ausgestattet, besaß sie ein großes
Wissen und eine umfangreiche Bildung. Ihr Charakter zeigte un-
beugsame Energie, große Leidenschaftlichkett und Impulsivität, sowie
Neigung zu Debatte und Widerspruch eine heiße Liebe zur Macht
kann ihr nicht abgesprochen werden. Im ersten Jahrzehnt ihrer Ehe
lebte meine Mutter, wie ich von Hinzpeter weiß, ganz ihrem ge-
liebten Manne, da war sie mehr liebende Frau als Mutter, und ließ
ihre ersten drei Kinder mit gewollter Härte und bewußter Strenge
erziehen. Erst mit den Jahren, als der Kronprinz sich mehr um
die Politik zu bekümmern begann, fand sie den Weg zur Kinderstube.
Die füngeren Kinder haben sie weit mehr als fürsorgende WMutter
gekannt und sie abgöttisch verehrt. Bielleicht hat auch der Tod
meines Bruders Sigismund, bei dem ihr warmes Mutterherz durch-
brach, viel zu dieser Wandlung, die nach 1870 eingetreten ist, bei-
getragen, sie hat den Verlust dieses Sohnes und den 13 Jahre später
erfolgten Tod meines Bruders Waldemar nie verwunden.
Man muß sicherlich bei einer Würdigung meiner Mutter berück-
sichtigen, daß sie als ganz junge englische Prinzessin in die ihr
fremden preußischen Verhältnisse kam und sich erst umstellen und
eingewöhnen mußte. Da sie aber bei ihrem Widerspruchsgeist wenig
anschmiegsam veranlagt war, sie andererseits auch auf keine Bereit-
wi#lligkeit stieß, die ihre Eigenart anerkannt hätte, so wollte sich der
Verschmelzungsprozeß nicht vollziehen. Typisch für ihr ganzes Wesen
ist da das Wort, das ihr Bruder, König Eduard, von ihr gesagt hat:
in Deutschland lobte sie alles Englische, in England alles Deutsche.
Ihr weitgespannter Interessenkreis umfaßte die verschiedenartigsten
Gebiete: Bolitik, Bhilosophie, Kunst und Kunstgewerbe, soziale Fra-
gen, Frauenbildung, charitative Bestrebungen, Gartenkunst und vieles
andere mehr.
Politisch war sie bekanntlich ganz von englisch-liberalen Ideen
erfüllt, so daß sie sich am Wesen des Altpreußentums stoßen und
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