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herrscht 1). In Deutschland ist der Herzog Karl von Braunschweig
gewaltsam entthront und durch seinen Bruder Wilhelm in der Herr-
schaft ersetzt worden. Der König von Preußen hat in Folge einer
Revolution die Souverainität über das Fürstenthum Neuenburg
verloren. — Nehmen wir hiezu die fortdauernden Nachwirkungen der
während der ersten französischen Revolution und des ersten Kaiser-
reichs stattgehabten Umwälzungents), so gelangen wir leicht zu der
Ueberzeugung, daß jedenfalls die europäischen Staaten sehr gering
an Zahl sind, welche, selbst wenn wir unsere rechtliche Prüfung kaum
zwei Menschenalter weit zurückführen, nicht in Bezug auf ihre unab-
hängige Existenz oder einen Theil ihres Gebiets oder ihre Staats-
form oder die Person ihres Herrschers den Makel ursprünglicher
Usurpation an sich tragen.
Aber gerade weil die Usurpationen einer Staatsgewalt so häufig
vorkommen und keine noch so unbestrittene Legitimität einen aus-
reichenden Schutz gegen dieselben gewährt, und da andererseits jeder
Innehaber der Staatsgewalt ohne alle Rücksicht auf Legitimität sei-
nem Willen Gehorsam zu verschaffen sucht und in der Regel auch
vermag, könnte man leicht zu dem Glauben geführt werden, unsere
Untersuchung sei im Grunde doch ohne alle praktische Bedeutung:
in Wirklichkeit entscheide über Souverainitätsfragen nur die Macht.½)
Die beste Widerlegung dieses Einwandes bietet die stete Erfahrung,
daß jeder Herrscher, auf welchem Wege er auch zur Herrschaft ge-
langt ist, ein Recht auf dieselbe zu haben behauptet, irgend einen
Rechtstitel hervorsucht, auf den er seine Herrschaft gründet 20). Ent-
weder will der Usurpator sich auf diese Weise vor seinem eigenen
17) In Spanien ist Don Carlos niemals in den Besitz der Staatsgewalt
gelangt. Der carlistischen Partei gilt aber natürlich die Königin Isabella für
illegitim, und so wurde sie auch von den meisten auswärtigen Cabinetten lange
Jeit angesehen.
18) Insbesondere beruht die Souverainität sämmtlicher Deutschen Staaten
auf dem widerrechtlichen Faktum der Auflösung des Deutschen Reichs im Jahre
1806 und ihr Gebietsumfang zum großen Theil auf den durch die Rheinbunds-
akte verfügten widerrechtlichen Annerionen („Mediatisirungen"). Es ist daher
durchaus verkehrt, wenn Held in seiner Schrift über Legitimität (S. 31 ff., S.
44 ff.) den Deutschen Staaten der Gegenwart eine in ihrem Ursprung unbefleckte
und deshalb vorzüglich heilig zu haltende Legitimität vindicirt.
19) Wir sehen hier ab von der Ansicht, welche Recht und Macht überhaupt
identificirt (&K 7); für diese Ansicht existirt eigentlich unsere Frage gar nicht.
20) Eine nach meinem Ermessen schiefe Erklärung dieser Thatsache giebt
Held, Staat und Gesellschaft, II, S. 728—729.