Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXI. Jahrgang, 1910. (21)

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gebenden; denn man kann nicht „organisieren“, 
wenn man nicht weiß wofür. Was also wollen wir 
in unseren tropischen Schutzgebieten in der Ein- 
geborenenhygiene erzielen? Wir sehen, daß unser 
Wollen beschränkt ist, und so gibt es mit Rücksicht 
auf diese Beschränkung zwei wesentlich verschiedene 
Möglichkeiten. Entweder die verfügbaren Mittel, 
persönliche wie sachliche, Arzte wie Geldmittel 
werden auf alle die vielen größeren und kleineren, 
ihrer Erledigung harrenden Aufgaben der Kolo- 
nialhygiene verteilt, oder wir werfen uns mit kon- 
zentrierten Kräften zunächst nur den gefährlichsten 
Feinden des Volkswohles entgegen. Wir wenden, 
um am praktischen Beispiele deutlich zu werden, 
entweder alle unsere Mittel zu einer gründlichen, 
energischen und beschleunigten Ausrottung etwa 
der Pocken, Lepra, Dysenterie und Schlafkrankheit 
an (wohlgemerkt natürlich immer neben der prak- 
tischen ärztlichen Tätigkeit für den einzelnen und 
wissenschaftlichen Forschung, wo diese möglich ist), 
oder wir nehmen einen Anlauf gleichzeitig gegen 
sämtliche volkshygienischen Übelstände unter den 
Eingeborenen. Welche der beiden Methoden vor- 
zuziehen sei, ist schwer zu entscheiden. Ich selber 
würde der ersteren den Vorzug geben. Die Be- 
rechtigung zu diesem Standpunkte leitet sich aus 
der Überzeugung her, daß die mit den wirtschaft- 
lich schwersten Schädigungen einhergehenden 
Volksseuchen an allererster Stelle und mit konzen- 
triertem Nachdruck in Angriff zu nehmen seien, 
selbst auf die Gefahr hin, daß weniger wichtige 
Fragen zeitweise dadurch zurücktreten müssen. 
Lieber in drei oder vier großen Dingen ganze 
Arbeit leisten, als ein Dutzend Halbheiten. Lieber 
einige wenige volkshygienische Aufgaben praktisch 
durchführen als hundert anschneiden und liegen 
lassen. Wir können auch mit unseren geringen 
Mitteln schon gegen Pocken, Lepra, Dysenterie 
und vielleicht auch Schlafkrankheit, allerdings nach 
einigen Jahren harter Arbeit, zum Ziele kommen, 
wenn wir uns gegen sie konzentrieren. Die Be- 
kämpfung wirtschaftlich weniger wichtiger Volks- 
krankheiten — greifen wir als Beispiel nur das 
große Heer der zahllosen verschiedenen Hautleiden 
und endemischen parasitären Krankheiten heraus 
— müssen wir zwar im Auge behalten, aber hin- 
sichtlich ihrer Ausrottung müssen sie und manche 
andere eine eura posterior sein. Ich will damit 
nicht etwa behaupten, daß bei günstiger Gelegen- 
heit nicht auch weniger bedeutsame volksgesund- 
heitliche Schäden da, wo wir ihnen gerade bequem 
beikommen können, jetzt schon beseitigt werden 
sollten. Aber es muß ein Gelegenheitsschlag sein. 
IJm übrigen die praktische Arbeit nicht zersplittern 
und zunächst das Gröbste möglichst im ganzen 
Lande gründlich verrichten. Unsere musterhaften 
heimischen volkshygienischen Vorkehrungen können 
  
wir leider nicht in die Tropenkolonien übertragen. 
In ihnen müssen erst die Fundamente geschaffen 
werden. Volksheilstätten, Irrenanstalten, Blinden- 
heime, Taubstummenschulen oder Krüppelheime 
können wir nicht gründen, aber Lymphe gewinnen 
und alle unsere Schwarzen durchimpfen, für jeden 
Bezirk ein Lepradorf anlegen, unsere Schlaf- 
kranken isolieren, die Ernährungs= und Trink- 
wasserfrage bei allen Massenansammlungen regeln 
und überwachen, das könnten wir. Um nicht miß- 
verstanden zu werden, möchte ich einfügen, daß ich 
natürlich nur in der Volkshygiene für Eingebo- 
rene diese meine Ansicht gelten lasse. Ganz 
anders liegen die Dinge bei der gesundheitlichen 
Fürsorge der Europäer in den Tropen. Ihre bis- 
her geringe Zahl, die eigentlich kaum dazu berech- 
tigt, von „Volkshygiene“ bei ihnen zu sprechen, 
ermöglicht und erfordert allseitige bis ins kleinste 
gehende Arbeit auch schon jetzt. Freilich würde sich 
auch hierbei empfehlen, die Grundfragen zuerst zu 
lösen. 
In den genau festgelegten großen Richtlinien 
für die volkshygienische Arbeit liegt gleichzeitig 
eine weitere, wesentliche Gewähr für ein unge- 
trübtes Zusammenwirken von Volkshygieniker und 
Verwaltung, zumal wenn diese nicht nur die 
Sanktion, sondern auch einen Nachdruck durch die 
vorgesetzte Behörde erhält. 
Der koloniale Verwaltungsbeamte kann aber 
die Eingeborenenhygiene nicht nur in den Be- 
zirken, denen bereits ein Arzt zur Verfügung steht, 
fördern; auch da, wo Arzte noch nicht stationiert 
sind, vermag er allein sehr viel für sie zu tun. Bei 
einem Kulturvolke geht der Schwerkranke, wenn 
er vernünftig ist, sofort zum Arzte; ist er unver- 
nünftig, so sucht er ihn wenigstens als letzte 
Instanz auf. Beim Naturvolke ist für einen Er- 
krankten nach der üblichen Durchgangsstufe des 
Fetischpriesters oder sonstigen Medizinmannes die 
letzte Hoffnung der Weiße schlechthin, das höhere 
Wesen, von dem er als selbstverständlich annimmt, 
daß er auch eine wirksame Arzuei für sein Leiden 
habe. So wird jeder Europäer auf Reisen im 
„Busch“ erlebt haben, daß ein Kranker ihn um 
Hilfe bat. Die meisten, auch nicht mit Arzten be- 
setzten Stationen in unseren Kolonien haben schon 
seit Jahren, ebenso wie vor ihnen bereits die 
Missionen, für ihre Arbeiter, Gefangenen und wer 
sonst zu ihnen kommt, einen täglichen Samariter- 
dienst eingerichtet, durch den Verbände angelegt 
und andere einfachere gesundheitliche Hilfeleistun- 
gen gewährt werden. Sie treiben also damit In- 
dividnalhygiene, Kolonialpolitik, und zwar eine 
Politik, die dem Neger sehr willkommen ist und 
von ihm geschätzt wird. Selbst eine nachhaltige 
Dankbarkeit wird er, wenigstens in einzelnen 
Fällen, für genossene Hilfe bewahren. Ein rühren-
	        
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