Object: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 27. 449 
von ihr getroffenen Entscheidung angefochten wird, etwa die Entscheidung 
über die Wählbarkeit eines Abgeordneten; vgl. v. Rönne I S. 249. « 
Die Bestimmung, daß dem Reichstag die Prüfung obliegt, bedeutet 
nicht, daß er seine Erhebungen, Vernehmungen von Zeugen, Einholung be- 
hördlicher Auskünfte usw. selbst ausführen darf. Denn dem Reichstag steht — 
v#gl. Art. 23F S. 439 f. — nicht das Recht zu, zur Feststellung von Tatsachen 
eine behördliche Gewalt auszuüben, und durch Art. 27 ist mangels einer 
dies feftstellenden ausdrücklichen Bestimmung dem Reichstag nicht einmal für 
Zwecke der Wahlprüfung eine entsprechende Befugnis verliehen. Auch darf 
der Reichstag die Gerichte und sonstigen Behörden um die erforderlichen 
Beweisaufnahmen nicht unmittelbar ersuchen, sondern muß sich dazu der 
Vermittelung des Reichskanzlers bedienen. Die Gerichte sind bei der 
Beweisaufnahme an die allgemeinen Vorschriften der Prozeßordnung ge- 
bunden, da spezielle gesetzliche Vorschriften für diese Erhebungen nicht 
bestehen; in Zweifelsfällen wird die Strafprozeßordnung eher anwendbar 
sein, als die Civilprozeßordnung, weil ein öffentliches Interesse an der 
Feststellung des Sachverhalts besteht, die Beweisaufnahme daher der Er- 
mittelung der materiellen Wahrheit, nicht der Nachprüfung von Partei- 
behauptungen dient und der Offizialbetrieb deshalb mehr am Platze ist als 
der Parteibetrieb; vgl. Anlagen 1895/97 Bd. 3 S. 1936. 
Ergibt die Prüfung des Reichstags die Ungültigkeit einer Wahl, so 
darf der Reichstag nicht zu der Frage Stellung nehmen, ob ein anderer 
Wahlkandidat ein besseres Recht auf das Mandat habe, sondern ist auf die 
Feststellung beschränkt, daß eine gültige Wahl nicht zustande gekommen 
sei, und es ist darauf die Sache der Reichsverwaltung für die Neuwahl 
Sorge zu tragen. Denn nichts als die Frage der Legitimation des ge- 
wählten Abgeordneten ist vom Reichstag zu prüfen; ebenso v. Seydel S. 207, 
Laband 1 313, Arndt Kommentar S. 197. Wird die Wahl für ungültig 
erklärt, so ist sie es in allen ihren Teilen, und die Neuwahl erstreckt sich 
auf den ganzen Bezirk. Andererseits darf der Reichstag keine Erhebungen 
mehr anstellen, sobald die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahl feststeht; 
vgl. die Erklärung des Staatssekretärs des Innern v. Bötticher in der 
Reichstagssitzung v. 13. Juni 1890 St. B. 317 ff., v. Seydel S. 208. 
Die Wahlprüfungskommission hat aus Anlaß eines Spezialfalls die 
Befugnis in Anspruch genommen, gegenüber Abgeordneten, deren gültige 
Wahl anerkannt ist, zu prüfen, ob in ihrer Person nachträglich Voraus- 
setzungen in Wegfall gekommen sind, von denen ihre Wählbarkeit abhing; 
vgl. Anl. der 10. Leg. Per. Sess. 1 Bd. 5 S. 3354 Nr. 543. Die Kommission 
hat ihre Zuständigkeit mit Recht angenommen, denn Art. 27 enthält für 
die Wahlprüfung keine zeitliche Beschränkung. 
Die Gültigkeit der Wahl ist durch die Anerkennung seitens des Reichs- 
tags nicht suspenfiv, sondern resolutiv bedingt, d. h. der Gewählte behält 
sein Mandat, bis es durch den Reichstag für ungültig erklärt ist. Dies 
ist im Art. 27 nicht pofitiv vorgeschrieben, ergibt sich aber zwingend aus 
den Verhältnissen, vor allem deshalb, weil am Anfang der Legislaturperiode 
niemand über die Gültigkeit der Wahlen entscheiden könnte, wenn vor der 
Anerkennung der Wahl die Gewählten ihr Mandat nicht ausüben dürften. 
Die Entscheidung des Reichstags ist endgültig. Sie wird ebensowenig 
wie andere Beschlüsse des Reichstags mit Gründen versehen. Die Gründe 
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 29
	        
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